Software-Entwickelnde und -Firmen müssen sich stets mit aktuellen Tech-Trends auseinandersetzen und Neues dazulernen. Wer nicht am Ball ist, bleibt auf der Strecke. Doch von Dystopie kann keine Rede sein.
Wer in der Software-Entwicklung arbeitet, lernt ein Leben lang hinzu. (Bild Adobe Stock)
Interview: Yasmin Billeter, HSLU
Björn Näf, neue Technologien fordern Software-Entwickelnde heraus – heute mehr als früher?
Der Beruf war schon immer begleitet von (r)evolutionären Veränderungen. Neu ist die Kraft der aktuellen Technologiewende: Trends wie Künstliche Intelligenz, Cloud Computing, Blockchain, Internet of Everything oder Quantum-Computing verändern in der Summe viele Arbeitsbereiche von Entwicklerinnen und Entwicklern. Das erfordert neue Fähigkeiten und Prozesse. Bewährte Arbeitsweisen werden teilweise radikal verdrängt. So ist es je nach Gebiet nötig, sich beruflich neu auszurichten.
Programmiererinnen und Programmierer mussten immer schon neue Sprachen und Tools lernen. Was ist heute so herausfordernd?
Zum einen hat sich die Evolution beschleunigt: Wer nicht am Ball ist, bleibt eher früher als später auf der Strecke. Zum anderen befindet sich das Berufsfeld im Wandel. Wo es früher noch genügte, etwas zu «können», also etwa eine bestimmte Programmiersprache zu beherrschen, müssen Entwicklerinnen und Entwickler heutzutage gleichzeitig immer mehr «kennen», und zwar nicht nur oberflächlich, sondern fundiert. Sie müssen wissen, welche Vorgehensweisen und Technologien gerade gehypt werden. Und (mit-)entscheiden können, wann es Zeit ist, auf den Zug aufzuspringen.
Sprechen Sie damit KI-Tools wie ChatGPT und Konsorten an?
Ja und nein. Fortschrittliche Sprachmodelle der Künstlichen Intelligenz existieren ja bereits seit mehreren Jahren. Ansätze, diese in der Softwareentwicklung zu nutzen, ebenso. Das eigentlich «Neue» an ChatGPT, Ernie, Bard & Co. und ist die Möglichkeit, dass heute alle diese per se komplexen Modelle ohne Vorwissen oder Einarbeitung verwenden können – die App öffnen und eine Frage eintippen reicht aus, um eine wohlformulierte Abhandlung eines Themas zu erhalten. Dies hat Fachleute aller Couleur auf den Plan gerufen. Die Softwareentwickler und Toolhersteller gehen das Thema KI zurzeit aber noch vergleichsweise stiefmütterlich an.
Inwiefern? Was machen Softwarehersteller falsch?
Die ganze Diskussion um das Thema KI ist wirtschaftlichkeitsgetrieben. Es geht primär um die Automatisierung bzw. Digitalisierung von Tätigkeiten, die bisher vom Menschen ausgeführt wurden. Diese Transformation erfordert radikales Umdenken. Wenn Sie an die Automatisierung des Rasenmähens denken, was kommt Ihnen spontan in den Sinn? Genau: Ein selbstfahrender Mähroboter. Man transformiert den Mähprozess ganzheitlich und überspringt die bisherige Rolle des Menschen vollständig. Niemandem würde einfallen, einen humanoiden Roboter à la «Terminator» an einen handbetriebenen Rasenmäher zu stellen, um diese Tätigkeit zu automatisieren.
Doch genau das geschieht momentan (noch) in der Softwareentwicklung: Hier werden Tools gebaut, die anstelle eines menschlichen Programmierers Code schreiben, in einer Sprache, die für menschliche Programmierer entwickelt wurde. Das macht eigentlich keinen Sinn, denn es werden nur Teile eines für den Menschen konzipierten Verfahrens ausgelagert, anstatt den gesamten Prozess neu zu gestalten. Künstliche Intelligenz könnte bereits heute viel mehr, doch Softwareleute setzen sie nur zögerlich ein – vielleicht auch, um die eigene Existenzberechtigung aufrecht zu erhalten.
Und wo geht die Reise hin? Gibt es in zehn Jahren keine Softwareentwickler mehr?
Der Mensch wird nicht der Technologie wegen verschwinden. Seine Aufgaben werden sich jedoch stark verlagern – und das schon bald. Die aktuellen Trends setzen sich nicht nur fort, sondern verstärken sich zusehends. Allen voran hat die Künstliche Intelligenz die technologische Revolution schon längst eingeläutet. Software, die sich selbstständig weiterentwickelt und andere Software erstellt, ist kein dystopisches Märchen mehr.
Grosse Player wie Google, Amazon, Microsoft und andere (vielleicht neue) werden ihre Marktführung weiter ausbauen. Sie werden mitbestimmen, welche Tech-Trends sich durchsetzen. Diese werden vielleicht noch disruptiver sein als heute. Softwareprofis werden viel mehr Kontextwissen benötigen, um Zusammenhänge zu verstehen und unterschiedliche Konzepte und Services zielführend entwickeln und einsetzen zu können.
Welchen Einfluss hat die Internationalisierung der Berufswelt?
Der ausländische Druck war und ist hoch. Insbesondere scheinen andere Länder neue Tech-Trends deutlich schneller zu adaptieren – die Schweiz gibt sich eher reaktiv als wegweisend. Durch die technologischen Entwicklungen wird die internationale Konkurrenz grösser. Umso wichtiger ist es für Schweizer Softwareentwickelnde und -firmen, den technologischen Fortschritt proaktiv mitzugestalten, anstatt nur darauf zu reagieren. Zum Beispiel indem sie aktiv an internationalen Tech-Konferenzen, Communities oder Forschungsprojekten teilnehmen.
Was ist der Lohn für all die Mühe? Welche Chancen eröffnen die disruptiven Technologien in der Software-Entwicklung?
Wenn es uns gelingt, die neuen Technologien wertsteigernd und ohne Verlust unserer moralischer Normen zu nutzen, werden alle profitieren. Softwareentwicklerinnen und -entwickler werden deutlich weniger müssige Routinearbeiten machen müssen. Das schafft viel Raum für spannendere Aufgaben, verlangt aber auch mentale Flexibilität.
So hat sich die Software-Entwicklung in den letzten 20 Jahren verändert
Autor: Björn Näf, HSLU
Wir beobachten Veränderungen auf drei Ebenen: bei den Technologien, bei den Prozessen und Organisationsformen sowie beim Markt.
Technologie
Die Software-Entwicklung war schon immer gleichzeitig Treiberin und Nutzniesserin von Neuerungen wie Programmiersprachen, Frameworks oder Tools. In den letzten zehn Jahren beobachten wir aber eine beschleunigte Evolution: Technologien und Anwendungen werden immer kurzlebiger und zudem öfter miteinander kombiniert, was wieder zu neuen Trends führt, wie etwa dem Metaverse, welches erst als Konglomerat etablierter Technologien zu etwas «Neuem» wurde.
Prozessmodelle
Agile Prozessmodelle haben die Vorgehensweisen bei der Software-Entwicklung revolutioniert. In den letzten Jahren haben sie auch die Organisationsstruktur von Unternehmen verändert. Selbst Grosskonzerne sind heute «agil» organisiert und funktionieren – zumindest auf dem Papier – nach den Grundprinzipien der Software-Entwicklung. Die Software-Entwicklung selbst hat den agilen Wandel am stärksten durchlebt. Prozesse und Strukturen in Softwarefirmen funktionieren heute meist diametral anders als noch vor zwanzig Jahren. Dementsprechend brauchen sowohl Entwickelnde als auch Führungspersonen andere Hard und Soft Skills als früher.
Markt
Auf der Anbieterseite schiessen Firmen mit Softwarekontext regelrecht aus dem Boden: Ob Sie Auto oder Zug fahren, eine Kaffeemaschine bedienen, Einkäufe bezahlen oder im Spital liegen – überall sind Computerprogramme im Einsatz, die irgendwer entwickeln, betreiben und warten muss. Dadurch entstehen immer neue Stellenprofile, und diese Jobs müssen besetzt werden. Der oft zitierte Fachkräftemangel ist allerdings trügerisch, denn langjährig tätige Software-Entwickelnde haben nicht per se eine grössere Auswahl an vakanten Stellen, weil die Profile zunehmend spezifischer werden.
Der Autor
Björn Näf ist Senior Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Programmleiter an der Hochschule Luzern – Informatik. Er unterrichtet unter anderem in den Bereichen Cyber Security und Software Engineering & Development.
www.hslu.ch
Der Beitrag erschien im topsoft Fachmagazin 23-3
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