Maschinen, Systeme und Produkte beginnen zu leben, zu denken und selbständig zu handeln – für uns, aber ohne uns. Das Zauberwort heisst Industrie 4.0. Möglich macht es die totale Vernetzung von Dingen, Daten und Prozessen.

Beschäftigte die Schweizer Industrie vor 25 Jahren noch ein Drittel der Erwerbstätigen, ist der Anteil heute auf einen Viertel gesunken. Trotzdem leisten die Industrieunternehmen einen fast unverändert hohen Anteil am Brut- toinlandprodukt. Ein kleines Wirtschaftswunder, welches einem stetigen Produktivitätswachstum zu verdanken ist. Dieses beruht in erster Linie auf automatisierten, rationalisierten Prozessen, innovativen Technologien und Materialien sowie der zunehmenden Digitalisierung der Produktion. Dass sich die Fertigungsmöglichkeiten laufend weiterentwickeln, ist nicht neu. Seit jeher versuchen die Menschen, ihre Arbeit schneller, besser und günstiger zu verrichten. Dabei werden «Quantensprünge» gerne als industrielle Revolutionen bezeichnet wie die Nutzung von Wasser- und Dampfkraft, die Einführung der Fliessbandarbeit oder die Unterstützung der Produktion durch Elektronik und IT.

Umdenken in der Fertigung

Gerade letztere mag einigen noch als CIM- Initiative der 1990er-Jahre in Erinnerung sein. «Computer Integrated Manufacturing» hiess das Zauberwort damals, welches zwar nicht dem Namen nach, aber doch in wesentlichen Zügen auch heute noch seine Gültigkeit hat. Inzwischen wurden Computer fleissig in die Fertigung integriert. Produktionsnahe Systeme wie ERP, MES, PLM, CAD, CAQ sind aus heutigen Industriebetrieben nicht mehr wegzudenken. Viele Anwendungen tasten sich dabei in Form von mobilen Lösungen, Scannern, RFID und Sensoren immer näher an den Ort des Geschehens heran, verbinden Konstruktion mit Planung und Auftragssteuerung oder holen sich Maschinendaten aus dem laufenden Betrieb. Was liegt also näher, als diesen digitalen Weg konsequent weiterzugehen?

Weiterentwicklung ja, aber nicht auf dem bisherigen Weg der Produktionsautomatisierung. Mit «Industrie 4.0» wird Geschichte geschrieben. Erstmals werden Produkt, Kunde und Maschinen aktiv in die Fertigungsprozesse eingebunden. Die Fertigungshalle wird zum cyber-physischen Schauplatz, wo sich IT, Elektronik und Mechanik verbinden und über eine gemeinsame Dateninfrastruktur kommunizieren. Damit einher geht eine Neudefinition des gesamten Lebenszyklus von Produkten – von der Nachfrage über die Produktion bis zur Nutzung und Entsorgung – auf der Basis sich selbstorganisierender Prozesse und einer individualisierten Fertigung bis hinunter zur Losgrösse 1. Die Rede ist von intelligenten Komponenten, die über eine gewisse Autonomie verfügen. Um die Idee dahinter zu verstehen, sollte man sich von konventionellen Denkmustern bei der Produktion lösen und sich an Konzepten des «Internet of Things» orientieren. Grundlage dazu bilden die vernetzte Kommunikationsfähigkeit von Bauteilen, Produkten, Maschinen und Systemen. Dabei werden Kunden, Hersteller, Lieferanten und Servicepartner zu Datengeber und Datennehmern einer total digitalisierten und vernetzten Welt.

Softwarehersteller sind gefordert

Digitalisieren und vernetzen – tönt  einfach, ist aber höchst anspruchsvoll. Mit der Einführung von «Industrie 4.0» geht die vollkommene Integration sämtlicher Unternehmensbereiche und der dort verwendeten (Insel-) Lösungen einher. Schnittstellen zwischen den einzelnen Applikationen reichen nicht mehr. Das neue Konzept funktioniert nur,  wenn  sich damit eine tiefgreifende, durchgängige Handlungsweise verbinden lässt. Vertrieb, Produktion,  Beschaffung,  Logistik, Finanzen und Service sowie das gesamte Spannungsfeld zwischen Kunde, Hersteller und Lieferanten müssen zu einem virtuosen Gesamtsystem zusammenwachsen. Mit den herkömmlichen Anwendungen wie ERP, CRM, BI, DMS, CAQ usw., welche als unterschiedliche Systeme in ihren eigenen «Welten» zu Hause sind, ist dies nicht zu bewältigen. Hinzu kommt, dass mit der totalen Vernetzung die Schleusen eines gewaltigen Datenstroms geöffnet werden (Big Data lässt grüssen). Informationen müssen künftig so verarbeitet und aufbereitet werden können, dass nicht mehr nur Anwender, son- dern neu alle Beteiligten – inklusive Bauteile, Maschinen oder Menschen – damit einfach und zielführend umgehen können. «Industrie 4.0» bedeutet nicht nur, mehr Daten zu verarbeiten, sondern auch deren Zusammenhang zu verstehen und entsprechende (automatisierte) Aktionen auszulösen. Noch gibt es keine dedizierten IT-Systeme, welche speziell auf diese Anforderungen ausgerichtet sind und die gesamte Komplexität solcher 4.0 Prozessen abbilden können. Immerhin zeigen einige ERP-Anbieter mit ihren «klassischen» Lösungen interessante Ansätze, auch wenn die Ansprüche von Industrie 4.0 und den realen Möglichkeiten im Bereich Business Software noch auseinanderklaffen. Es wird spannend sein, die Weiterentwicklung von Business Software zu verfolgen, doch eines ist klar: Mit den jetzigen Lösungen wird die vierte industrielle Revolution – ganz nach dem Motto «alter Wein in neuen Schläuchen» – im Sand stecken bleiben.

Prozesse verändern sich

Nebst der Verfügbarkeit von durchgängigen Daten und der zusammenhängenden Verarbeitung von Informationen nimmt die Beherrschung aller damit verbundenen Prozesse eine zentrale Rolle ein. Gerade weil der Automatisierungsgrad bei Industrie 4.0 sehr hoch ist, müssen Arbeitsabläufe im Detail analysiert, verstanden und dokumentiert werden. Ansonsten besteht die Gefahr, dass solche Systemlandschaften zu einer geheimnisvollen Black Box verkommen. Nur wer sämtliche Prozesse einer Organisation perfekt beherrscht, wird das Potential von «Industrie 4.0» vollumfäng- lich abrufen können. Das Rezept dazu heisst analysieren, optimieren und digitalisieren. Dabei sind insbesondere die Schnittstellen zwischen den verschiedenen Aktoren zu berücksichtigen – und zwar im Sinne eines laufenden, dynamischen Datenaustausches zwischen Mensch, Maschine und Material. Da bei Industrie 4.0 Prozessen die Kunden eine zentrale und vor allem aktiv mitgestaltende Rolle einnehmen, müssen Möglichkeiten eingeplant werden, wo und in welcher Form Kundenwünsche und -bedürfnisse  integriert werden können. Dies kann nicht nur zu veränderten Entwicklungs- und Herstellprozessen führen, sondern auch Auswirkungen auf das gesamte Geschäftsmodell haben. Auch hier wirkt Industrie 4.0 durchaus disruptiv. Konnte sich ein Unternehmen bisher mehr oder weniger auf die eigenen Inhouse-Prozesse konzentrieren, wird Industrie 4.0 zum Schmelztiegel verschiedener,  auch  externer  Prozesse.  Bei  solchen «verlängerten» Prozessen wird das Zusammenspiel aller Stakeholder und involvierten Systeme enorm wichtig. Ein Grund, weshalb im Rahmen von Industrie 4.0 Initiativen welt- weit der Ruf nach noch mehr Standardisierung laut wird. Nur wenn alle die gleiche (Daten-) Sprache sprechen, wird die totale Vernetzung möglich. Advanced Manufacturing (USA), Usine du Futur (F), Made in Sweden (S), Industrie 4.0 (D) oder Initiative 2025 (CH) – die vierte industrielle Revolution hat viele Namen und meint doch stets das Gleiche: Ohne Digitalisierung der Prozesse wird es für Industrieunternehmen schwierig zu überleben.

Christian Bühlmann

Christian Bühlmann ist Chefredaktor des topsoft Fachmagazin für Business Software.