Der Lebensmittelhandel steht vor einer Zäsur: Vom Marktstand über den Supermarkt bis hin zum Self-Check-out – der Wandel war weitreichend. Doch nun wird der Einkauf unsichtbar, automatisiert und hyperpersonalisiert. Mit digitalen Technologien und KI eröffnen sich ungeahnte Möglichkeiten, fernab vom physischen Handel. Dies wird nicht nur das Einkaufserlebnis, sondern auch den gesamten Wertschöpfungsprozess der Lebensmittelbranche neu definieren.

Symbolbild Firefly
Vom Feld direkt auf den Teller – digital gesteuert
Die moderne Landwirtschaft hat sich längst digitalisiert. Sensoren, Data Analytics und Robotik helfen nicht nur dabei, die Erträge zu optimieren und die Qualität der Produkte zu verbessern, sondern machen auch die gesamte Wertschöpfungskette nachhaltiger und effizienter.
Ein Beispiel ist die Migros, die mit ihrem
Opex Tower eine lückenlose Transparenz in der Supply Chain ermöglicht. Dies erlaubt es, Warenflüsse praktisch in Echtzeit zu verfolgen und Engpässe – etwa aufgrund von Naturkatastrophen – schneller zu überbrücken. Digitale Systeme bieten somit die Möglichkeit, alle Prozesse entlang der Wertschöpfungskette zu optimieren und gleichzeitig Ressourcen zu schonen. Durch die zunehmende Vernetzung der verschiedenen Akteure wird der gesamte Lebensmittelhandel effizienter und transparenter, was nicht nur zu Kostenreduktion führt, sondern auch einen wichtigen Beitrag zur Nachhaltigkeit leistet.
Die Zukunft des Einkaufs wird zunehmend intelligenter, nahtloser und personalisierter. Algorithmen und KI-gestützte Systeme werden unsere Bedürfnisse immer präziser erkennen – oft noch bevor wir uns dieser bewusst sind. Sie werden wissen, wann der Kühlschrank oder die Vorratskammer leer ist und automatisch Bestellungen auslösen, ohne dass wir einen Finger rühren müssen. Dies spart nicht nur Zeit, sondern hilft auch, Verschwendung zu reduzieren und die Lieferkette zu optimieren.
Ein wichtiger Meilenstein dafür wird der GS1 Branchenstandard des 2D-Code bzw. Digital Link sein. Diese Technologiegrundlagen schafft eine transparente, vernetzte Infrastruktur, die es ermöglicht, jedes Produkt digital zu verfolgen. Ein klarer Vorteil dieser Vernetzung ist nicht nur die Effizienz, sondern auch die Nachvollziehbarkeit jedes Produkts, was das Vertrauen der Konsumenten stärkt und die Lebensmittelsicherheit erhöht.
Automatisierung mit Strategie: Technologie trifft Kundenerlebnis
Der erste Schritt in die Welt der Automatisierung wurde mit Self-Service-Systemen und kassenlosen Supermärkten gemacht. In der Schweiz liegt die Marktdurchdringung bereits bei ersteren bei rund 40 %, während Deutschland mit rund 8 % noch stark hinterherhinkt. Doch die nächste Stufe der Automatisierung steht bevor: Intelligente Warenkörbe, smarte Kassenlösungen und KI-gestützte Einkaufserlebnisse sind die Zukunft.
Der Erfolg dieser Technologien wird jedoch nicht nur durch ihre Effizienz bestimmt, sondern auch durch ihre Integration in das Kundenerlebnis. Erfolgreiche Unternehmen setzen auf eine hybride Strategie, bei der Technologie die Effizienz steigert, aber der personalisierte Service den Unterschied macht. Die Balance zwischen Automatisierung und menschlichem Service wird entscheidend dafür sein, wie gut diese Technologien von den Konsumenten angenommen werden.
Ein Blick nach China zeigt, wie die Zukunft des digitalen Handels aussehen könnte. Super-Apps wie WeChat und Alipay vereinen Shopping, Bezahlung und Dienstleistungen auf einer einzigen Plattform – nahtlos und mehrheitlich ohne Medienbrüche.
In der westlichen Welt hingegen gibt es kein Ökosystem, sondern eine Vielzahl von Einzel-Apps, die oft nicht miteinander verknüpft sind. Doch auch hier wird sich das ändern: Die Entwicklung eigenständiger digitaler Ökosysteme, die sich intuitiv in den Alltag der Konsumenten integrieren, wird entscheidend sein für die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen. Super-Apps werden auch in Europa eine Schlüsselrolle spielen. Wer heute die Weichen stellt, wird morgen den Markt prägen.
Technologie als Schlüssel zur nachhaltigen Lebensmittelversorgung
Lebensmittelverschwendung ist eine der grössten Herausforderungen unserer Zeit und smarte Technologien bieten vielversprechende Lösungen. KI-gestützte Bedarfsanalysen ermöglichen es, Produktionsmengen genau abzustimmen und Überproduktion zu vermeiden. Intelligente Rezeptvorschläge helfen dabei, vorhandene Zutaten effizient zu nutzen und Abfall zu reduzieren. So wird Nachhaltigkeit nicht nur zu einer moralischen Verpflichtung, sondern zu einer wirtschaftlichen Notwendigkeit.
Ein entscheidender technologische Meilenstein wird der Digital Link sein, der 2027 die vollständige Digitalisierung und Transparenz der Wertschöpfungskette ermöglichen wird. Dieser digitale Standard umfasst nicht nur detaillierte Produktinformationen, sondern auch die Integration von Mindesthaltbarkeitsdaten (MHD). Diese können über Smart-Home-Systeme in Echtzeit überwacht werden, sodass Nutzende ihre Einkäufe und die Haltbarkeiten ihrer Lebensmittel besser im Blick behalten können.
Besonders Menschen mit Sehbeeinträchtigungen profitieren von dieser Entwicklung. Digitale Produktinformationen können barrierefrei bereitgestellt werden. Technologie wird damit nicht nur zum Enabler für Nachhaltigkeit, sondern auch zu einem Treiber für Inklusion und eine ressourcenschonende Lebensweise.
Zukunft der Interaktion: Digitale Assistenten als Bestandteil des Alltags
Aktuelle Entwicklungen zeigen, dass sich die Mensch-Technologie-Interaktion zunehmend verändert. Während ältere Generationen weiterhin auf schriftliche Kommunikation setzen, nutzen jüngere Zielgruppen immer häufiger Voice-Technologien für ihre alltäglichen Aufgaben.
In den USA ist die Akzeptanz von Voice Assistants bereits weit verbreitet. In Europa jedoch ist der Trend noch zurückhaltend. Der entscheidende Wendepunkt wird die Integration generativer KI in digitale Assistenten sein. Heutige Sprachassistenten sind in ihrer Funktionalität noch eingeschränkt – sie dienen hauptsächlich der Steuerung von Smart-Home-Geräten oder der Wiedergabe von Nachrichten. Doch mit dem Fortschritt von Systemen wie ChatGPT & Co. entwickeln sich Sprachassistenten zu intelligenten, proaktiven Helfern, deren Funktionen weit über heutige Anwendungen hinausgehen.
Sobald diese Assistenten nahtlos in unser digitales Ökosystem eingebunden sind, werden sie eine transformative Rolle im Alltag spielen. Sie werden nicht nur bei der individualisierten Informationsbeschaffung unterstützen, sondern auch persönliche Aufgaben proaktiv organisieren und eine dynamische Interaktion mit smarten Geräten und den menschlichen Dialog ermöglichen. Die Herausforderung für Europa wird nicht nur in der technologischen Implementierung, sondern auch in der Förderung der gesellschaftlichen Akzeptanz dieser Technologien liegen.
Personalisierung als strategischer Treiber für Handel und Gesundheit
Personalisierung ist längst mehr als ein Marketinginstrument – sie wird zum zentralen Differenzierungsfaktor im Handel. Seit mehr als 60 Jahren werden Kundendaten systematisch erfasst. Besonders in der Schweiz hat sich dieses Modell durch Loyalitätsprogramme etabliert.
Doch der wahre Wert dieser Daten wird erst durch moderne Analysen und smarte Verknüpfungen voll ausgeschöpft. Diese sich zunehmend zu einer intelligenten Lebensplattform entwickeln. Mithilfe von KI werden individuelle Masterprofile entstehen, welche hyperpersonalisierte Einkaufsempfehlungen geben. Durch Predictive Shopping und dynamische Preisgestaltung kann der Handel nicht nur Umsatz optimieren, sondern auch aktiv die Gesundheit der Kundschaft fördern. Der Handel transformiert sich von einem reinen Produktanbieter zu einem integralen Bestandteil eines gesundheitsbewussten Lebensstils.
Langfristig könnte diese Entwicklung auch über den klassischen Handel hinausgehen. Was heute im Leistungssport bereits durch personalisiertes Essen etabliert ist, könnte durch smarte Technologien auch in der breiten Gesellschaft Einzug halten. Wearables erfassen bereits heute Gesundheitsdaten in Echtzeit, die in individuelle Ernährungspläne überführt werden. Smarte Küchen könnten automatisch Mahlzeiten zubereiten, die exakt auf die biologischen Bedürfnisse der Nutzenden abgestimmt sind.
Küche der Zukunft: Effizienz, Genuss und intelligente Automatisierung
Die Küche der Zukunft wird durch technologische Innovationen und individuelle Gestaltung neu definiert. Automatisierung, KI-Rezeptoptimierung und vernetzte Systeme werden nicht nur Effizienz steigern, sondern auch neue Möglichkeiten für personalisierte Ernährung und nachhaltigen Konsum eröffnen. Die Herausforderung liegt darin, Technologie als Enabler zu nutzen – als Unterstützung, die den Menschen befähigt, anstatt ihn zu ersetzen.
Die Transformation des Lebensmittelhandels ist weit mehr als ein technologischer Fortschritt – sie verändert grundlegend, wie wir Genuss, Gesundheit und Nachhaltigkeit erleben. Unternehmen, die über das klassische Produktangebot hinausdenken und sich als Entwickler smarter Gesellschaftslösungen positionieren, werden langfristig den Markt prägen.
Doch wer wird diese Zukunft dominieren? Die etablierten Lebensmittelhändler oder technologiegetriebene Player mit neuen Geschäftsmodellen? Die Antwort ist offen – aber eines ist klar:
Die Zukunft beginnt jetzt. Wer ist bereit, den nächsten Schritt zu gehen?
Der Autor
Andy Baldauf ist Experte für stationären und digitalen Handel, bringt über 20 Jahre Erfahrung in Marketing, Digital Business und Innovationsmanagement mit. Als Top Retail Expert und gefragter Keynote Speaker teilt er sein Wissen regelmässig und wurde zudem als LinkedIn Top Voice ausgezeichnet.
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Der Beitrag erschien im topsoft Fachmagazin 25-1
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