Es geht um mehr als E-Commerce

04.12.2021
3 Min.
Die Händler sind um ihre Position im Machtgefüge zwischen Konsumenten und Plattformen nicht zu beneiden. Die Digitalisierung hat sie in diese Lage gebracht, aber sie bietet auch Auswege. Einer davon ist Livestream-Shopping.
 
 
(Symbolbild: Ekaterina_Molchanova / AdobeStock)
 
 
«Rosé Getose» nennt sich das Live-Shopping-Format von Madelyne Meyer alias «Edvin Uncorked». Einen Abend lang sitzt die Weinbloggerin und -influencerin im luftigem Sommerkleid im Garten vor der Kamera und bringt 81 Teilnehmerinnen via Zoom-Call unter anderem die typischen Rosé Weinregionen und Herstellungsmethoden näher. Im Voraus haben die Zuschauer ein Degu-Päckli bestellt, welches die Degustationsweine und das Lehrmaterial für den Abend enthält. Wem der degustierte Rosé mundet, kann mit wenigen Klicks Nachschub bestellen – in Edvins Onlineshop.
 
Das Format von «Rosé Getose» wird im E-Commerce-Jargon als Livestream-Shopping bezeichnet. Über Social-Media-Plattformen, eigene oder z. B. Instagram, präsentieren Händler ihren Kundinnen Produkte in einer Live-Videoübertragung. Dabei interagieren sie mit den Zuschauern, beantworten Fragen und erhalten direktes Feedback. Livestream-Shopping ist nur ein Beispiel dafür, wie Händler trotz grosser Herausforderungen durch die Digitalisierung die Chancen derselben für sich nutzen können.
 
 

Alle Macht den Konsumenten

Aufgrund der Digitalisierung hat die Marktmacht von Konsumenten zugenommen. Mit dem Smartphone stets zur Hand können sich Konsumentinnen jederzeit und überall umfassend informieren, Preise schnell vergleichen und einfach zwischen verschiedenen Anbietern wechseln – sie befinden sich gegenüber den Verkäufern in einer dominanteren Position. Preistransparenz und Angebotsüberschuss führen zu Preiskämpfen, was sich in Rabatten und Preissenkungen und folglich tieferen Margen niederschlägt. Die einzigen, die von dieser Entwicklung profitieren, sind die Plattformen.
 
 

Chancen der Digitalisierung erkennen

Ob Facebook, Google, Amazon oder TikTok, sie alle spielen in der Kundenreise der Kundinnen, der Customer Journey, eine prominente Rolle. Dies insbesondere am Anfang des Kaufprozesses, in der Awareness- und Evaluationsphase. So fliesst ein Grossteil der Marge in die Taschen dieser sogenannten Kundenzugangsdienstleister. Denn das ist deren Erlösmodell: Der Verkauf des Kundenzugangs und der entsprechenden Daten. Und dieser Zugang wird immer teurer und muss jedes Mal aufs Neue bezahlt werden, sofern der Händler es nicht schafft, Kundinnen langfristig direkt an sich zu binden.
 
Nicht erstaunlich also, dass viele Händler hinsichtlich dieser Herausforderungen der Digitalisierung nichts Gutes abgewinnen können und sie weiter mehr als Fluch denn als Segen betrachten. Problematisch kommt hinzu, dass vielfach nur die Wirkung, wie Preisverfall und erhöhte Marketingkosten, wahrgenommen wird, die Ursachen dafür aber ignoriert werden. Dabei wäre genau diese Wahrnehmung so wichtig, um den negativen Entwicklungen entgegenzuwirken und sich die Chancen zunutze zu machen, die die Digitalisierung durchaus bietet.
 
 

Es geht um mehr als E-Commerce

Was können Händler tun? Erstens müssen sie es schaffen, die Abhängigkeit von den Kundenzugangsdienstleistern so tief wie möglich zu halten, zweitens müssen sie die Vergleichbarkeit ihres Angebots reduzieren und drittens müssen sie zusätzliche Erlösquellen zum reinen Handelsgeschäft aufbauen.
 
Wer diese Aufgaben anpacken will, dem wird schnell klar: Hier geht es um mehr als E-Commerce. Die Frage: «Wie kann ich meine Produkte am besten online verkaufen?» greift zu kurz. Die richtige Frage lautet: «Wie kann ich mithilfe der Digitalisierung meiner Kundschaft einen echten Mehrwert bieten?». Diese Frage beantwortet jedes Unternehmen aufgrund seiner einzigartigen Ausgangslage und Zielgruppe anders und daraus resultieren – bei allen, die die Aufgabe wirklich beherzigt haben – dann unverwechselbare, authentische Customer Journeys und Onlineauftritte.
 
 

Der reine Verkauf steht im Hintergrund

Einer davon ist derjenige von Edvin: Ihre Kundinnen kommen zwar auch grösstenteils von den Plattformen Instagram oder Google, allerdings setzt sie ihre Ressourcen anstelle für Werbung für hochwertigen Content ein und erreicht als Influencerin allein mit ihrem Instagram-Account und mit organischen Posts mehr als zwölftausend Personen. Auf der Startseite ihres selbst illustrierten Onlineshops wird dem Besucher erst nach einigem Runterscrollen Wein zum Verkauf angeboten. 
 
Als erstes wird er auf ein Quiz aufmerksam gemacht, um herauszufinden, welcher Weintyp er überhaupt ist. Auch werden selbst zusammengestellte sogenannte Päckli angeboten, wie das «Traumwein Deguset» oder das «Rotchäppli-Päckli». Alles Angebote, die ganz bestimmt nur bei Edvin zu finden sind. Und dann gibt es noch die Events, wie eben das «Rosé Getose», bei dem es um das Erlebnis geht und der Verkauf des Weins zur Nebensache wird. 
 
 
Disclaimer: Die Autorin kennt zwar Edvin und hat auch schon in ihrem Onlineshop bestellt, sie pflegt jedoch keine geschäftliche Beziehung zu Madelyne Meyer. Insbesondere aufgrund der mehrfachen Nominierungen für den Digital Commerce Award und der persönlichen Begeisterung für den Onlineshop, erschien der Autorin das Praxisbeispiel als passend und inspirierend.  
 
 

Die Autorin

Alexandra Scherrer ist CEO & Senior Digital Business Consultant bei Carpathia AG, der unabhängigen und neutralen Beratungsagentur für Digital Commerce. In ihrer Funktion unterstützt sie grosse und kleine Unternehmen unterschiedlicher Branchen aus B2C und B2B bei der Strategie-Erarbeitung, -Konzeption und -Umsetzung. Ihr Wissen und ihre Begeisterung fürs Thema Digital Commerce gibt sie in Form von Fachartikeln, Blogbeiträgen oder als Dozentin an verschiedenen Schweizer Hochschulen weiter. 
 
 

 

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