Der Digitale Produktpass: Transparenz und Lieferketten im Fokus

28.04.2025
7 Min.

Die EU plant die Einführung des Digitalen Produktpasses (DPP), ohne den die Einfuhr von Waren ins europäische Wirtschaftsgebiet unmöglich wird. Dies betrifft auch Schweizer Unternehmen, die Waren in die EU exportieren möchten. Was kommt auf Schweizer KMU zu? Wo liegen die Chancen, wo die Herausforderungen? Wir haben uns mit drei Experten unterhalten.

 

Symbolbild Ideogram

 

Mit dem Digitalen Produktpass treibt die EU ein zentrales Projekt des Green Deals voran. Ziel ist es, den gesamten Lebenszyklus eines Produkts – von der Herstellung bis hin zur Entsorgung – transparent zu machen. Das stärkt nicht nur den Umwelt- und Ressourcenschutz, sondern sorgt auch für stabile, resiliente Lieferketten sowie umfassende Informationen für die Kundschaft.
 
Auch Schweizer Unternehmen stehen vor Herausforderungen: Wer Produkte in der EU vermarkten will, muss sich auf diese digitalen Standards einstellen. Für KMU bedeutet das, frühzeitig die richtigen Massnahmen zu ergreifen, um wettbewerbsfähig zu bleiben.
 
Cyrill Schmid hat sich mit drei Experten über die Chancen, aber auch die Herausforderungen des DPP für Schweizer KMU unterhalten. Den Fragen gestellt haben sich:
 
 
Uwe Rüdel, Head of Industry Engagement Technical Industries bei GS1 Switzerland. Er beschäftigt sich mit der eindeutigen Identifizierung von Produkten als Grundlage der Kreislaufwirtschaft.
 
 
 
Stefan Wichmann, Senior Account Executive bei Contentserv. Er unterstützt Unternehmen dabei, ihre Produktdaten zu optimieren und in Umsatz zu verwandeln und die Marktdurchdringung zu erhöhen.
 
 
 
Stephan Läderach, Senior Business Consultant bei Aclevion. Er hat sich während seiner langjährigen Karriere auf die Bereiche PIM, DAM und E-Commerce spezialisiert.
 
 
topsoft Fachredaktion: Was ist der «Digitale Produktpass»? Und ist er für Schweizer Unternehmen überhaupt von Bedeutung?
 
Uwe Rüdel: Der DPP ist ein produktspezifischer Datensatz für den EU-Wirtschaftsraum, der sämtliche relevanten Produktinformationen wie Herkunft, Materialien, Herstellungsprozesse und Nachhaltigkeitsangaben transparent und nachvollziehbar zugänglich macht. Für Schweizer Unternehmen ist das Thema von zentraler Bedeutung. Einerseits wegen der steigenden Nachfrage nach Transparenz und Nachhaltigkeit, andererseits auch wegen der neuen EU-Ökodesign-Verordnung, wonach nachhaltige Produkte in Zukunft zur Norm werden sollen.
 
Das Ziel der EU ist aber auch, die verletzlichen Lieferketten durch erhöhte Transparenz zu schützen. 
Wenn Schweizer Unternehmen in die EU exportieren, sollten sie sich zwingend mit dem Thema DPP auseinandersetzen.
 
Stephan Läderach: Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Schweiz Teile des EU Rechts übernimmt. Dies heisst, dass sich auch Unternehmen, die nicht in die EU exportieren, ebenfalls mit dem DPP auseinandersetzen sollten.
 
 
Wie fördert der DPP die Kreislaufwirtschaft und bringt dabei wirtschaftliche Vorteile?
 
Uwe Rüdel: Indem er eine lückenlose Rückverfolgbarkeit von Produkten und Materialien ermöglicht. So können Unternehmen genau nachverfolgen, welche Materialien in den Produkten enthalten sind und wie diese nach der Nutzung wiederverwertet oder recycelt werden können. Durch diese Transparenz können Unternehmen zirkuläre Geschäftsmodelle entwickeln, bei denen Produkte nach ihrem Lebenszyklus zurückgenommen, wiederaufbereitet oder wiederverwendet werden. Dies reduziert nicht nur Abfall, sondern schafft auch wirtschaftliche Vorteile, etwa durch die Wiederverwertung von Rohstoffen und die Einsparung von Produktionskosten.
 
Welche Produkte sind davon betroffen?
 
Uwe Rüdel: Die Frage ist eher, welche Produkte nicht davon betroffen sind: Lebensmittel, Tierfutter, Medizinalprodukte oder Autos sind die wenigen Ausnahmen. Alle anderen Artikel, Einzelteile oder Materialien benötigen für die Einfuhr früher oder später einen DPP.
 
 
Welche spezifischen Vorgaben macht die EU-Verordnung genau?
 
Uwe Rüdel: Diese werden voraussichtlich im Jahr 2026 veröffentlicht, doch wird es sich vermutlich um folgende Attribute handeln: Produktmerkmale, Informationen zum Inverkehrbringer bzw. Importeur, Informationen zu Auf- und Abbau bzw. Reparatur des Produkts, Umweltproduktdeklaration (EPD), Sicherheitsdatenblätter, Logistikdaten etc.
 
 
Welche Konsequenzen drohen Unternehmen, die den DPP nicht fristgerecht umsetzen?
 
Uwe Rüdel: Man muss die DPP-pflichtigen Produkte registrieren und auch eine Zollnummer beantragen. Wer dies unterlässt, darf den Artikel nicht in die EU einführen. Wir empfehlen Unternehmen deshalb, sich rechtzeitig mit den Anforderungen des DPP auseinanderzusetzen, um weiterhin wettbewerbsfähig zu bleiben.
 
Stephan Läderach: Es werden in erster Linie wirtschaftliche Konsequenzen sein, weil Produkte nicht mehr exportiert werden können. Zudem ist ein DPP ein klarer Wettbewerbsvorteil gegenüber der Konkurrenz. Auch die Schweizer Konsumenten werden Produkte mit Produktpass bevorzugen.
Welche technologischen Voraussetzungen müssen *geschaffen werden?
 
Uwe Rüdel: Die Verwendung offener Standards, die zentrale Verwaltung von Stammdaten sowie ein zentrales Produktdatenmanagement (PIM) sind das A und O. Industrieunternehmen sollten ihre Datenlandschaft bereits jetzt so optimieren, dass sie auf die DPP-Anforderungen vorbereitet sind. Dabei sollten Lieferanten in die Vorbereitung miteinbezogen werden. Daten gilt es so zu nutzen, dass Geschäftsmodelle optimiert werden können, z.B. in Richtung zirkuläre Wirtschaft. Dann braucht es auch eine sinnvolle Verwendung von Stammdaten, inkl. diejenigen von Lieferanten, durch entsprechende Datensysteme wie z.B. PIM-Lösungen. Das Ziel ist die Beschaffung, Anreicherung und Verteilung der finalen Produkte mit dem DPP.
 
Stefan Wichmann: Produktdaten werden in einem modernen PIM zentralisiert, angereichert und verwaltet – und letztendlich kanalspezifische Inhalte auf allen relevanten Plattformen veröffentlicht. Der Digitale Produktpass stellt hier einen zusätzlichen Ausgabekanal dar, der transparente und standardisierte Produktinformationen entlang der gesamten Wertschöpfungskette bereitstellt.
 
 
Welche Herausforderungen entstehen bei der Integration des DPP in bestehende Systeme?
 
Stefan Wichmann: Die Integration des DPP in eine bestehende Systemlandschaft kann eine Reihe von Herausforderungen mit sich bringen. Unternehmen verfügen oft über eine Vielzahl von Systemen (z.B. ERP, CRM, PLM), die unterschiedliche Datenformate und -strukturen verwenden. Die Integration dieser Daten in den DPP kann komplex und zeitaufwendig sein. Hier hilft ein modernes PIM-System wie Contentserv, um die Produktdaten in homogene Formate zu bringen und die Daten anzureichern: zur Erfüllung aller Pflichtanforderungen, Gewährleistung der Datenqualität, aber auch für Übersetzungen in verschiedene Sprachen.
 
Auch die Performance bestehender Systeme kann bei grossen Datenmengen die Integration des DPP beeinträchtigen. Die Lösung ist hier ein skalierbares PIM-System, um die Leistung bereitzustellen und auch zukünftige Anforderungen zu erfüllen.
 
Stephan Läderach: Die bestehende Systemlandschaft muss fähig sein, sämtliche für den DPP benötigten Produktinformationen in unterschiedlichen Sprachen effizient zu verwalten. Dazu gehören auch Mediendaten wie Bilder und Videos. Bietet die bestehende Systemlandschaft diese Möglichkeiten, sind insbesondere noch die Schnittstellen zu lösen. Einerseits möglicherweise Import-Schnittstellen, um von Lieferanten Daten zu übernehmen, andererseits Export-Schnittstellen, um die für den DPP relevanten Daten extern verfügbar zu machen.
 
Auch die Prozesse sind wichtig. Diese sollten schlank und möglichst automatisiert sein, damit wenig Pflegeaufwand erforderlich ist.
 
 
Wie sichern Unternehmen die Datenqualität und die vollständige Informationserfassung?
 
Uwe Rüdel: Unternehmen müssen auf offene, standardisierte Systeme und Prozesse setzen. Auch gilt es, partnerschaftlich mit Lieferanten und Partnern zusammenzuarbeiten, um die benötigten Informationen lückenlos entlang der Lieferkette zu erfassen. Die Verwendung von GS1-Standards kann hier eine wichtige Rolle spielen, da sie es Unternehmen ermöglichen, Produktdaten international standardisiert und maschinenlesbar zu sammeln und zugänglich zu machen. Es braucht Datensysteme, die die Datenqualität abbilden, aber auch Prozesse und Workflows überwachen und automatisieren können.
 
 
Welche Einsatzmöglichkeiten von KI gibt es, um Prozesse beim DPP zu optimieren?
 
Stephan Läderach: KI kann helfen, fehlende Daten zu ergänzen bzw. bei der Bereitstellung zu unterstützen. Schlussendlich ist es aber immer der Inverkehrbringer der Ware, der für die Validierung verantwortlich ist.
 
Stefan Wichmann: Contentserv nutzt KI bereits bei der automatisierten Datenerfassung und -extraktion. Bilder, Texte und Sprache werden automatisch erkannt. Aus Bildern werden Produktinformationen, Seriennummern oder Barcodes übernommen, aus Texten die Produkteigenschaften und -beschreibungen oder auch Zertifikate. KI kann Daten aus verschiedenen Quellen aggregieren und in einem einheitlichen Format zusammenführen. Auch bei der Datenvalidierung und -qualitätskontrolle nutzt das PIM von Contentserv KI. Zur Datenanalyse werden komplexe Daten in benutzerfreundliche Dashboards und Berichte visualisiert.
 
Uwe Rüdel: Man kann KI auch verwenden, um Produkte von einem ins andere Klassifizierungssystem zu übertragen. Es gibt weltweit nämlich über 30 verschiedene Klassifizierungssysteme für Produkte, z.B. ETIM, eClass, uniClass, UNSPSC etc. Mit KI wäre es möglich, eine Konvertierungsbrücke zu bauen, um zwischen den verschiedenen Klassifizierungssystemen zu übersetzen.
 
 
Welche Chancen eröffnet der Digitale Produktpass für Unternehmen?
 
Uwe Rüdel: Der DPP eröffnet Unternehmen Wettbewerbsvorteile und innovative Geschäftsmodelle. Durch erhöhte Transparenz können Marken das Vertrauen der Verbraucher gewinnen und sich als nachhaltige Vorreiter positionieren. Der DPP fördert zudem zirkuläre Geschäftsmodelle und digitale Dienstleistungen.
 
Er fungiert auch als zusätzlicher Kommunikationskanal zur Kundschaft; man kann den Kunden besser verstehen und betreuen. Mögliche alternative digitale Geschäftsmodelle sind Product-as-a-Service, Buy-back, Sharing Platforms, Track-and-Trace, Buy-back, Remote-diagnosis & Remote-analysis und viele mehr.
 
Stephan Läderach: Der DPP erlaubt es Unternehmen, Vertrauen bei der Kundschaft aufzubauen und so die Markenbindung zu stärken. Er ermöglicht, spezifische Angebote für Kunden zu erstellen sowie weiterführende Informationen zu vermitteln.
 
Stefan Wichmann: Dienstleistungen rund um die Artikel können stark personalisiert werden, so dass weitere Services angeboten werden können.
 
 
Mit welchen Investitionen müssen Unternehmen rechnen?
 
Stephan Läderach: Dies hängt vom bestehenden Digitalisierungsgrad der Organisation ab. Sind z.B. alle notwendigen Daten vorhanden? Habe ich bereits einen geeigneten Datencarrier, also z.B. einen QR-Code oder NFC RFID auf meinen Produkten? Ein durchgängiges Datenmanagement ist nur so möglich. Es wird empfohlen, mit einem einfachen Pilotprojekt für ein eher simples Produkt zu beginnen, um die Komplexität dann schrittweise zu erhöhen.
 
 
In welche Bereiche muss vorrangig investiert werden?
 
Uwe Rüdel: Da gibt es so einige, je nach aktuellem Stand. Sicher in die IT und die Logistik, aber auch in Einkauf, Beschaffung, Digitalisierung, Produktdesign, Datengrundlagen, Change Management, Marketing und Kommunikation etc.
 
Stephan Läderach: In die Digitalisierung der Unternehmung an sich, speziell in Systeme, die bei der Beschaffung, Verwaltung und Veröffentlichung digitaler Produktdaten die entsprechenden Prozesse durch Automatisierung unterstützen.
 
 
Vielen Dank für das aufschlussreiche Gespräch.

 

 

 

 

 

Der Beitrag erschien im topsoft Fachmagazin 25-1

 

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