Wer mitten im Geschehen steckt, nimmt Veränderungsprozesse nur als kleine Schritte wahr. Blickt man zurück, so merkt man erst, wie grundlegend sich das Leben verändert hat. Wie haben wir Termine abgemacht, als es noch keine Chat-Apps gab? Wie war das Reisen ohne Smartphone? Wann habe ich die letzte Rechnung auf Papier erhalten?
Buchautor Jürgen Müller hat sich an die Herkulesaufgabe gemacht, allgemeinverständlich zu erklären, wie IT unser Leben verändert hat. Er analysiert kritisch und distanziert, aber ohne Panikmache. Er startet sein Buch «Zeitenwende – Wie die IT unsere Welt verändert» mit einem Blick auf die neuen Cyber-Verhaltensstörungen der Menschen. Da gibt es Online-Disinhibition (Enthemmung), Cyberchondrie (Angststörungen), Online-Syndication (verstärkt die Verbreitung von Verschwörungserzählungen), Cyber-Naivität und die Aufmerksamkeitsdefizite, die Cyber-Migration verursachen kann.
Wie gefährlich sind New Work und Gig Economy?
Gut verständlich erklärt er, was Plattformen wie Facebook sind und wie sie funktionieren, er beschreibt Algorithmen und fragt, ob sie zwingend böse seien. Er rekapituliert, wie Algorithmen mittels Micro-Targeting zur Manipulation von Wahlen eingesetzt wurden und werden.
Doch er vergisst die Demokratisierung des Wissens durch das World-Wide-Web nicht und beschreibt die Wonnen und Gefahren von «New Work» und der «Gig Economy». Auch Sex ist ein relevantes Thema, wenn es um IT, Business und die Auswirkungen auf die Gesellschaft geht, wie Müller aufklärt.
IT als Spin-off des Krieges
Ich habe mich rund 40 Jahre beruflich mit Informatik und Software auseinandergesetzt und mir das typisch journalistische Halbwissen angeeignet. Trotzdem finde ich die historischen Kapitel in «Zeitenwende» spannend und lehrreich. Die meisten der ersten Computer wurden für militärische Anwendungen entwickelt. Dabei kommt Müller zum Schluss, dass Europa nach dem Krieg das Potenzial der Informationstechnologie massiv unterschätzt hat. Und es deshalb die USA waren, von wo die IT zur Weltmacht aufstieg, wo das Netz der Netze entstand und von wo PCs, später Smartphones die Welt eroberten. Schon um die Jahrtausendwende orchestrierte IT praktisch alle Geschäftsprozesse.
Im Kapitel «Die Transformation der Wirtschaft» geht Müller auf einige aktuelle Trends ein. Der Einsatz von Künstlicher Intelligenz im Alltag sowie die vierte industrielle Revolution, deren Potenzial angesichts des Lärms um KI aktuell eher unterschätzt wird.
Wer den Ukraine-Krieg verfolgt, weiss, wie wichtig Informatik in der Kriegführung ist. Im Cyberwar werden Meinungen und Wahlen beeinflusst und der Aufstieg Chinas hat zu einem Technologiekrieg zwischen China und den USA geführt.
Hacken als Teil der Plattformökonomie
Fast täglich berichten die Medien von erfolgreichen Angriffen gegen verschiedene Organisationen. Auch dazu gibt es im Buch eine gut einordnende Übersicht der Player und des Geschehens. Von Hackern zum Darkweb ist es nicht weit. Das Kapitel «Im Kellergewölbe des Internets» ist exemplarisch für die Qualität des Buchs. Müller erklärt verständlich, wie das Dark Web funktioniert. Im letzten Kapitel setzt sich Müller mit den Megatrends der IT auseinander, wie dem Metaversum und der Relevanz des Web 3.0 (Blockchain, Non-Fungible Tokens etc.).
Und was kommt danach? Werden Quantencomputer die heutigen Grenzen der Informatik sprengen? Wann gibt es autonom fahrende Autos? Und wer wird die Künstliche Intelligenz kontrollieren?
Jürgen Müllers Buch ist in manchen Aspekten einmalig. Er erklärt Technologie gleichzeitig verständlich und witzig. Vor allem aber ordnet er Trends ein. Er erklärt also zum Beispiel nicht nur, was generative KI ist, sondern erzählt auch, warum es für wen wichtig ist und was es bewirken könnte. Er zeichnet das «Big Picture». Lesenswert.
Möglichkeiten zur Buchbestellung und mehr zum Buchautor Dr. Jürgen Müller finden Sie unter zeitenwende-it.com
Der Autor
Christoph Hugenschmidt ist ein erfahrener Journalist und freiberuflicher Autor, der sich auf die IT-Branche spezialisiert hat. www.schreibenundreden.ch
Der Beitrag erschien im topsoft Fachmagazin 24-1
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