Wohin führt Künstliche Intelligenz? Und wer fragt noch nach IT?

09.09.2024
5 Min.

Ein Bekannter von mir arbeitet in einer Unternehmensberatung. Er sagte mir kürzlich, dass seine Kunden nicht mehr über IT reden wollen, sondern nur noch über Künstliche Intelligenz. Wird KI den Begriff IT ablösen, weil sie zukünftig alle Anwendungsbereiche der Computerei erobert und dominiert?

 

Symbolbild von KI erstellt

 

Wie in den meisten Branchen ist es auch in der IT sinnvoll, sich erstmal die voraussichtliche Entwicklung des Marktvolumens anzuschauen, bevor man irgendwelche Aussagen über die Zukunft einer Technologie trifft. 
 
Die Marktforscher von Verified Research prophezeien der KI ein durchschnittliches jährliches Wachstum (Compound Annual Growth Rate, CAGR) von stattlichen 36,4% bis 2030. Am Ende dieser Periode soll dann ein globales Marktvolumen von 1,129 Milliarden US Dollar stehen. Die Konkurrenz von Grand View Research geht in einer vergleichbaren Untersuchung von 37,3% CAGR und 1,81 Milliarden US Dollar für den gleichen Zeitraum aus. 
 
Solch eine Einmütigkeit unter den Marktforschern ist eher selten. Dennoch, da KI sowohl technisch wie auch im Hinblick auf ihre Anwendung eine enorm schnelle Entwicklung nehmen wird, sind alle Prognosen mit einer gewissen Vorsicht zu betrachten.  
 

Automatisierung war gestern

Wie lassen sich diese hohen Erwartungen an das Marktwachstum von Künstlicher Intelligenz erklären?
 
KI markiert den Übergang von nützlichen Computern zu klugen Computern. Überspitzt formuliert: Solange Computer lediglich nützlich waren, konnten wir sie «nur» für die Automatisierung von Aufgaben und Prozessen einsetzen. Ihre neue Klugheit führt zur nahezu grenzenlosen Expansion ihrer Anwendungsgebiete und wir werden ihnen zukünftig mehr und mehr Aufgaben übertragen können, welche die Fähigkeit zu intelligenten Entscheidungen voraussetzen. 
 
KI-Anwendungen werden zukünftig eine immer grössere Rolle im Bereich Industrie 4.0 und der Smart Factory spielen. Der Begriff bezeichnet zum einen die extensive Nutzung aller anfallenden Daten im Rahmen eines Produktionsprozesses, der von der Lieferung benötigter Vorprodukte über die Produktion als solche und die Qualitätssicherung bis hin zur Auslieferung an Kunden reichen kann. 
 
Neben den Anwendungsmöglichkeiten in Smart Factorys, Robotik und Industrie 4.0 werden im professionellen Umfeld die grössten Einsatzpotenziale von KI im Medizin- und Gesundheitswesen, in der Finanzindustrie, der Landwirtschaft, den Medien, der Werbung und den Bereichen Mobilität und Transport vorausgesagt. 
 
Ein noch stärkeres Wachstum wird wohl dadurch verhindert werden, dass die Verfügbarkeit von geeignetem Personal in den Unternehmen und damit das Know-how heute schon begrenzt ist. Aber auch dafür zeichnen sich erste Lösungen ab. 
 
Das Zauberwort heisst hier, wie so oft in der IT, «as-a-Service» – in diesem Falle «Advisory-as-a-Service». So bietet beispielsweise die Unternehmensberatung Deloitte eine Cloud–Plattform an, auf der Geschäftskunden Künstliche Intelligenz als Dienstleistung mittels spezieller Apps nutzen können. Das Spektrum reicht von «einfacher» Email-Triage über Prozessanalyse und Interpretation unstrukturierter und komplexer Daten bis hin zum Strategie-Design.  
 

KI für Konsumenten

«AI for everything», KI für alles, hat die Online-Ausgabe der MIT Technology Review einen ihrer Artikel am 8. Januar 2024 überschrieben. Die Anwendungen von KI im Alltag sind in der Tat schon entsprechend zahlreich. Beispiele sind die sogenannten «Smart Home»-Geräte, welche die Steuerung unseres häuslichen Energieverbrauches regeln oder ihr zunehmender Einsatz in der Unterhaltungsindustrie. 
 
Gegenwärtig noch am leichtesten zu erfahren und zu verstehen ist die Wirkung von generativer KI im Alltag aber am Beispiel von Text-, Bild- und Videogeneratoren, Suchmaschinen oder den ChatBots auf Webseiten. Im Gegensatz zu den früheren, digitalen Assistenten unterstützen uns Letztere mittlerweile auf intuitive Weise. Durchaus vergleichbar mit diesen intelligenten ChatBots nutzen die neuen KI-Suchmaschinen natürliche Sprache, um unsere Eingaben zu verstehen, zu interpretieren und Antworten zu finden. 
 
Ein gutes Beispiel dafür ist Microsofts Bing. Sie verstehen nicht nur den Kontext unserer Suche sehr viel besser, sondern auch unsere «Suchabsicht». Anders gesagt: Was hatte der Nutzer im Sinn, als er die Suchanfrage startete? So können sie ihre Antworten auf unsere Fragen sehr viel besser personalisieren und präzisieren – als würde ein Mensch für uns suchen. 
 

Wie geht es weiter?

Sehr grosse ChatBots, auch als LLM (Large Language Models) bezeichnet, sind in der Regel eher generisch angelegt. Sie arbeiten im Hintergrund mit einer enormen Anzahl von sogenannten Parametern. Bei ChatGPT-4 von OpenAI schätzt man, dass er auf 1,8 Billionen(!) Parametern basiert. Diese Parameter sind im Wesentlichen statistisch gewichtete Werte, die das Modell während des Trainings aus den Daten lernt und ständig anpasst, um die Genauigkeit seiner Antworten zu verbessern und sie kontinuierlich an die Datenlage anzupassen. Sie bilden die Grundlage des Maschinellen Lernens und sind die auf Mathematik gegründeten, miteinander verknüpften Knoten im neuronalen Netzwerk der KI.
 
Bei dieser gigantischen Menge an Parametern ergeben sich grosse Herausforderungen. Gesetzgeber auf der ganzen Welt fordern, dass KI ihre Entscheidungen und Antworten transparenter macht. Aufgrund welcher Logik kam eine Antwort zustande, auf welchen Daten basiert sie? Das kann etwa relevant sein für die Vermeidung von versteckter Diskriminierung und mangelhafter Objektivität. 
 
Bei KI mit inzwischen nicht selten über 50 Milliarden Parametern und den enormen Volumina ihrer Trainingsdaten, ist die geforderte Transparenz kaum mehr zu schaffen. Selbst ihre Entwickler müssen in diesen Dimensionen schon mal passen, wenn es um die Erklärung von Ergebnissen geht. Als weitere Nachteile kommen die erheblichen Kosten für das Training mit riesigen Datenmengen hinzu, für die Qualitätssicherung dieser Daten sowie für die enorme Rechenpower, die für die Bewältigung dieser Mengen in vertretbarer Zeit benötigt wird. In einem Interview mit Open Data Sciences gab Sam Altman, CEO von OpenAI, an, dass allein die Trainingskosten für ChatGPT-4 bei weit über 100 Millionen US Dollar liegen. Ökonomisch sind der Skalierbarkeit der LLM also Grenzen gesetzt. 
 

Small is beautiful

Folgt man Altman, dann endet die Zeit der Riesenbots in nicht allzu ferner Zukunft. Wir werden es in Zukunft wahrscheinlich eher mit kleinerer, thematisch spezialisierter und weniger generell ausgelegter, generativer KI zu tun haben, bei der die Anzahl von Parametern nicht mehr so gross sein wird. Zudem ist zu erwarten, dass mehrere KI-Modelle zu einer Art Cluster zusammengeschlossen werden und arbeitsteilig vorgehen. Eine Methode, die wir bei Hardware jeglicher Art schon seit langem praktizieren. 
 
Auch weitere Methoden erinnern an frühere Lehren aus der IT. So dürften sehr bald auch mehr Chips zur Verfügung stehen, die speziell für die Verarbeitung von LLM entwickelt wurden und der Code der KI wird stärker an die Chips angepasst werden, auf denen er läuft. Der Kreativität sind wie immer keine anderen als ökonomische Grenzen gesetzt.
 
Das erforderliche Zusammenspiel von CPUs, Netzwerken, Datenbanken und Cloudlösungen sowie die vielen anderen, signifikanten Entwicklungen in der IT – wie etwa Blockchains oder die entstehenden Quantencomputer– werden meines Erachtens wohl nicht dafür sorgen, dass KI und IT auf absehbare Zeit de facto oder begrifflich verschmelzen werden. Dass KI allerdings eines der prägendsten Elemente sowohl auf Hersteller – wie auch Nutzerseite sein wird, steht ausser Zweifel.
 
 
Diese Artikel wurde für das topsoft Fachmagazin leicht gekürzt, die vollständige Fassung sowie weitere Artikel des Autors finden Sie auf www.zeitenwende-it.com
 
 

Der Autor

Dr. Jürgen Müller hat mehr als 35 Jahre in verantwortungsvollen Positionen in der IT in Europa und den USA verbracht. Zuletzt hat er im eigenen Software-Startup gearbeitet. Seit Februar 2023 ist er «active retiree» und nach wie vor ein enger Begleiter der IT-Branche.
www.linkedin.com/in/mueller-juergen
 
 
 

 

Der Beitrag erschien im topsoft Fachmagazin 24-2

 

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