Das ERP-System ist seit Jahrzehnten das Herzstück vieler Unternehmens-ITs. Und der Markt ist im Prinzip voll davon. Allein in der topsoft Marktübersicht buhlen 125 IT-Anbieter mit 165 ERP-Systemen um die Gunst der Kundschaft. Trotzdem drängen weiterhin neue ERP-Lösungen auf den Markt. Warum? Wir haben die Experten gefragt und erfahren, warum es immer noch Innovationen im ERP-Markt braucht. Hier finden Sie das komplette Interview mit Uwe Singer, Geschäftsführer boreas AG.
Uwe Singer (Bild zVg von boreas AG)
Wie kommt man als Schweizer IT-Anbieter auf die Idee, im Jahr 2024 ein neues ERP-System auf den Markt zu bringen? Ist das Angebot nicht schon gross genug? Dieser Frage sind wir nachgegangen und haben Uwe Singer, Geschäftsführer von boreas AG, dazu einige Fragen gestellt.
topsoft Fachredaktion: Warum entwickelt man 2024 noch ein neues ERP-System? Gibt es nicht schon genügend Systeme?
Uwe Singer: Grundsätzlich schon, aber eben nicht die Richtigen. Momentan findet auf dem Markt eine Konzentration auf grosse Unternehmen statt. Viele Kleine werden geschluckt und die Lösungen verschwinden auf dem Markt. Das Bedürfnis nach flexiblen und überschaubaren Lösungen, welche von regionalen Partnern entwickelt werden, nimmt zu. Zudem darf man nicht vergessen, dass eine Entwicklung mit den heute verfügbaren Werkzeugen längst nicht mehr so zeitintensiv ist wie früher. Es kann also auch viel rascher auf Wünsche von den Anwendern eingegangen werden.
Was waren für Sie die Hauptgründe, im 2024 ein von Grund auf neues ERP zu entwickeln?
Die Nähe zum Kunden. “KMU für KMU” ist die Devise. Ein ERP alleine ist noch keine Garantie für eine wirkliche Verbesserung in den eigenen Prozessen. Wichtig ist, dass dieses ERP auch rasch und unkompliziert an die Bedürfnisse und laufenden Änderungen angepasst werden kann. Das lässt sich aber nur dann machen, wenn man 100 Prozent der Entwicklung selbst in der Hand hat.
Warum hat man nicht die bestehende Lösung weiterentwickelt? Oder gab es noch gar keine vorher?
Eine neue Generation von Software soll die neuen Technologien und auch die neueste Generation von Benutzern unterstützen. Wenn wir nun versuchen die bestehende Lösung mit einem “neuen Anstrich” moderner aussehen zu lassen, so ist dies nur teilweise erfolgreich und endet früher oder später in einer Sackgasse. Darum haben wir auch schon in der Vergangenheit immer wieder mit komplett neuen Lösungen bei Zeile 0 begonnen und daraus jeweils eine neue Generation unseres ERP geschaffen. Das Know-how wird übernommen, nicht aber der Sourcecode.
Welche spezifischen Bedürfnisse oder Alleinstellungsmerkmale deckt ihr System ab?
Kurz gesagt: Transparenz und Effizienz. Wir haben zwei Stossrichtungen, welche wir konsequent bei der Konzeption und Entwicklung unseres ERP umsetzen. Zum einen ist das eine konsequente und vollständig integrierte Prozessorientierung. Es geht dabei nicht wie in den meisten Fällen einfach um die visuelle Abbildung von Prozessen, sondern um die effektive Steuerung und Automation aller Prozesse in einem Geschäft durch das ERP. Zum anderen haben wir eine Technologie implementiert, welche ein weitreichendes Customizing ohne Verlust der Releasefähigkeit erlaubt. Diese beiden Punkte ermöglichen einerseits eine Anpassung des ERP an den Betrieb und ein laufendes “mitwachsen” in der Zukunft.
Integriert Ihr System KI-Technologien, um Anwendern einen Mehrwert zu bieten?
Momentan sind wir daran, in den Bereichen der Warenbewirtschaftung (Bestellvorschlag) und der Logistik (Tourenplanung) Elemente der KI anzubinden. Vieles davon ist zwar noch experimentell, aber in Zukunft werden diese Technologien zum Standard werden.
In welcher Weise berücksichtigt Ihr neues ERP-System die Anforderungen der digitalen Transformation und der zunehmenden Vernetzung von Industrien?
Wir haben bereits heute Implementationen in herstellenden Betrieben, welche komplett auf Papier für interne aber auch externe Prozesse verzichten können. Prozesse, Mailanbindungen und das Smartphone ersetzen Papier. Über Mechanismen wie EDI, XML, JSON, API und anderen Technologien erfolgt eine Anbindung von Lieferanten und Kunden, um so die gesamte Lieferkette zu digitalisieren und zu vernetzen.
Wie gehen Sie mit der Herausforderung der Datensicherheit und des Datenschutzes um?
Früher hat es gereicht, wenn man “Module” mit Zugriffsberechtigungen versehen hat. In der integrierten Welt von Prozessen müssen die Berechtigungen auf Datensätzen und Informationen gesetzt werden können. In der neuen Software-Generation sind diese Mechanismen enthalten, was eine vollständige Umsetzung von Datenschutzverordnungen ermöglicht. Der Einsatz einer modernen Datenbank (Ms SQL) ermöglicht über Transaktionen und Synchronisationen die Schaffung von ausfallsicheren Systemen.
Welche Branchen oder Unternehmensgrössen sehen Sie als Zielgruppe?
Ein ERP ist grundsätzlich branchenneutral. Mit der eingesetzten Technologie ist unser System auch in Bezug auf die Grösse nicht beschränkt. Dennoch haben wir aktuell vor allem Bio-Betriebe im Fokus, welche mit Lebensmitteln handeln bzw. diese herstellen. Um auf Augenhöhe zu bleiben, sind Firmengrössen bis ca. 200 Mitarbeiter sinnvoll. Anfangen können wir da aber auch schon bei einem ersten Arbeitsplatz (Start-up).
Wie unterscheidet sich das Nutzererlebnis Ihres neuen ERP-Systems von anderen am Markt vorhandenen Lösungen?
Die neue Generation läuft in jedem Browser und ist vollständig responsive. Ein Betrieb ist also auf einem Arbeitsplatz mit mehreren Bildschirmen, auf Tablets oder sogar auf dem Smartphone möglich. Die Bedienung orientiert sich an den neuesten Trends und Elementen und ist somit für die kommende Generation von Benutzern gewappnet.
Was kann Ihr System besser als die etablierten ERP-Lösungen?
Trotz hoher Funktionalität legen wir einen hohen Wert auf intuitive Bedienung. Mit den oben genannten USPs lässt sich das System in kurzer Zeit einführen und laufend an die wachsenden und ändernden Bedürfnisse anpassen. Zusammengefasst kann man sagen, dass wir funktional so viel bieten wie “grosse” Lösungen, aber deutlich günstiger in der Anschaffung und dem Betrieb sind.
Können Sie etwas zu technologischen Innovationen im neuen ERP System sagen?
Eine moderne, zu 100 Prozent browserfähige Entwicklungsumgebung (C#), zusammen mit einer stabilen und mächtigen Datenbank (Ms SQL), sowie dem Einsatz eines MDA-Frameworks (model driven architecture) führen zu einer noch nie dagewesenen Flexibilität im ERP.
Wer heute wechselt, hat meist viele Jahre Transaktionsdaten und so ist der Vendor-Lock ein grosses Problem bei ERP-Systemen. Was ist da Ihr Ansatz, um das zu verhindern?
Neben den statischen Daten wie Adressen und Produkte, streben wir auch immer eine Übernahme der Laufdaten (History) an. In den meisten Fällen gelingt das sehr gut, was den Firmen eine vollständige Transparenz im neuen System bietet.
ERPs werden zu zentralen Datenplattformen. Welche Werkzeuge/Technologien kommen für eine einfache Integration mit Umsystemen zur Verwendung?
Neben den klassischen Integrationen über EDI unterstützen wir auch eine vollständige Integration per API oder den Austausch von Daten via XML oder JSON.
Wie sehen Sie die Zukunft des ERP-Marktes? Sehen Sie Technologien, die den Markt komplett verändern werden?
Seit vielen Jahren redet man von SaaS, was jedoch einen Betrieb der Software in der Cloud erfordert. Bisher haben sich Firmen mit diesem Gedanken nur widerwillig auseinandergesetzt. COVID hat hier zu einem globalen Umdenken geführt und die Digitalisierung wird nun als Vorteil angesehen. Auch die im Browser betriebenen Applikationen sind inzwischen in Bezug auf Visualisierung und Bedienung (Tastatur) deutlich besser geworden. Neue Browser ermöglichen dies erst. Somit gehen wir davon aus, dass es in Zukunft wirklich in Richtung SaaS gehen wird.
Carte Blanche: Was möchten Sie uns sonst noch sagen, welche wichtige Frage haben wir vergessen?
Unsere persönliche Meinung: Gerade aus Sicht der Schweiz ist es kaum mehr möglich eine regional verankerte Sofware zu kaufen. Der aktuelle Trend, bei welchem ein paar grosse Player die kleinen kaufen, führt zu einer starken Globalisierung im Softwaremarkt. Lokale Bedürfnisse und Eigenheiten (z.B. 5-Rappen-Rundung) sind für diese Player oft kein Thema. Zudem sind im internationalen Vergleich gesehen die Schweizer Firmen oft sehr klein, was die Verhandlungsposition deutlich schwächt. Wir füllen genau diese Lücke, indem wir uns dem regionalen Markt mit einer zu 100 Prozent innerhalb der Schweiz entwickelten Lösung widmen. Swiss-Made-Software - nicht nur auf dem Label, sondern auch in Wirklichkeit!
Vielen Dank für die interessanten Antworten!
Hier finden Sie die Antworten von Maurice Hälg, Geschäftsführer von Immensive SA.