eCommerce wächst. Die Pandemie hat gezeigt: Gerade stark internetbasierte Handelsunternehmen kommen mit den Bestellungen kaum nach. Die Folge davon sind überlastete Kontaktcenter mit langen Wartezeiten, schlecht konzipierte Self-Service-Portale und eine zunehmende Verärgerung beim Kunden.
(Bild: visual-generation / AdobeStock)
Doch trotz dieser Probleme sucht man gute Servicestrategien am Markt vergeblich. Das hat mehrere Gründe. Häufig liegen schlicht zu wenig Informationen über die zukünftige Entwicklung der Kundenkontakte vor. Reihenweise führen Unternehmen jedoch reine Symptombekämpfung durch. Das verschleisst die Organisation mittelfristig und führt zu einer erhöhten Mitarbeiterfluktuation.
Beispiel gefällig? Im Rahmen des Service-Excellence-Cockpits monitoren wir beispielsweise, wie Unternehmen ihren Kundenservice promoten. In den letzten 18 Monaten identifizierten wir dabei in Deutschland, Österreich und in der Schweiz reihenweise Unternehmen, die Kontaktdaten des Kundenservice auf der Website von der ersten in die dritte oder vierte Navigationsebene verschoben haben.
Grundidee dabei ist offenbar, Kundenkontaktmöglichkeiten so zu verstecken, um zu verhindern, dass der Kunde anruft. Das ist ein Trugschluss mit recht eindrücklichen Folgen: Es rufen genauso viele Kunden an wie vorher, nur sind diese meist deutlich schlechter gelaunt, da sie gerade 10 Minuten damit verbracht haben, die Kundenkontaktdaten zu suchen. Die Folge sind signifikant längere Gespräche. Fazit: Diese Idee schafft es auf Anhieb in die Top 3 der miesesten Service-Ideen.
Fehlende Kontaktstrategie führt zu höheren Kosten
Andere Unternehmen steuern lediglich mit dem Service-Level und stehen daher bei einem steigenden Kontaktvolumen nur noch vor der Wahl, mehr Mitarbeitende an mehr Telefon-, Mail- oder Chatlinien zu setzen.
Das sorgt jedoch für Konflikte, da ohne eine Kundenservicestrategie das Kontaktcenter in den allermeisten Fällen als reines Cost Center gesehen wird und somit dem Unternehmen nichts andere übrig bleibt, als Volumenwachstum durch Mitarbeiterwachstum zu beantworten. In den allermeisten Fällen führt das nur dazu, dass Mitarbeitende nach wie vor bei 80% der Anfragen die gleichen 20% der Antworten geben müssen. Und das verschleisst entweder durch Burn-out oder Bore-out. Bedeutet: mit schöner Regelmässigkeit braucht man neue Mitarbeitende. Und die muss man ausbilden. Ergebnis: Hamsterrad und ein solider Platz 2 der dummen Ideen.
Nicht alles, was möglich ist, ist auch sinnvoll
Platz 1, und zwar unangefochten, nimmt zurzeit die wahllose Etablierung neuer Servicetouchpoints ein. Untersuchungen der amerikanischen Technologie-Research-Beratung Gartner haben in diesem Zusammenhang ergeben, dass bei einem unkontrollierten Wachstum des Touchpoint-Angebots sich das Anfragevolumen im gleichen Mass entwickelt, weil die Dialoge nicht über die verschiedenen Berührungspunkte zu einer einheitlichen Kontakthistorie zusammengeführt werden. Diese Erkenntnis können wir durch das Service-Excellence-Cockpit mit Zahlen aus dem Dach-Raum nur unterfüttern.
Dabei zeigen sich bei den untersuchten 250 Unternehmen in den letzten 5 Jahren nur wenig Veränderungen bei den Arten des Kundenkontakts, dies trotz zunehmender Digitalisierung. Telefon hat zwar etwas verloren, ist aber mit 76 % aller Service-Volumina immer noch stark dominant. E-Mail (14 %), Brief (4 %) und sogar das Fax (2 %) bleiben volumenmässig konstant. Webformular, Webportal und Chat wachsen auf 1 bis 2 % des Gesamtvolumens und Videoberatung schliesslich spielt nirgends eine nennenswerte Rolle und kann lediglich in der Beratung bei hochwertigen eCommerce-Geschäften als Leuchtturm-Lösung angesehen werden.
Diese Entwicklung zeigt eines: Self-Service Instrumente und automatisierte Touchpoints wie Chatbots oder Service Portale einzuführen kann ohne die richtigen strategischen Rahmenbedingungen nicht gelingen, da kaum Menschen von selbst auf den tollen Gedanken kommen: «Heute helfe ich mir mal im Netz selbst weiter».
Abbildung 1: Servicestrategie
Basis Servicestrategie
Es braucht also eine Servicestrategie. Ein solches Vorhaben zeigt die Abbildung 1:
Es geht also in einem ersten Schritt einer Servicestrategie darum festzuhalten, was man eigentlich erreichen will. Bei den meisten der knapp 25 von uns begleiteten grossen Serviceorganisationen stand eine reibungslose Bewältigung des Wachstums im Servicebereich, die Transformation vom Cost- zum Value Center (das Erträge erbringt) oder eine Positionierung als Service-Leader im Experience Wettbewerb im Vordergrund der Betrachtungen.
In einem zweiten Schritt einer solchen Vorgehensweise muss festgehalten werden, welche Services heute erbracht werden und welche in drei Jahren durch das Contact Center erbracht werden sollen. Im Grunde genommen ist eCommerce da eine recht einfache Anwendung, bei der 8 typische Kundenanfragen dominieren:
- Wo finde ich mein Zeug?
- Ist mein Zeug verfügbar?
- Habe ich mein Zeug nun wirklich bestellt?
- Wo ist mein Zeug gerade?
- Wann kommt mein Zeug bei mir an?
- Das Zeug ist fehlerhaft, kaputt, schlecht, gefällt mir nicht – wie schicke ich es zurück?
- Das Zeug, was ich neulich bestellt habe, was war das noch gleich? Kann ich es nochmal bestellen?
- Zurück zum Anfang *** SCHLEIFE UNENDLICH
Servicekatalog als nächster Schritt
Diese Anfragen gilt es volumenmässig zu quantifizieren und mittels der Value-Irritant-Matrix zu klassifizieren. Wie das geht, zeigt Abbildung 2.
Das ergibt den zukünftigen Servicekatalog. Mittels einfacher Erlang-Berechnung kann so evaluiert werden, wie sich der zukünftige Mitarbeiter- und Linienbedarf entwickelt und welche Effekte das Vermeiden von Dialogen bei wiederkehrenden Beschwerden und Fragen, das Vereinfachen vor allem administrativ-rechtlicher Dialoge, das Automatisieren von Standardvorfällen und das Ausschöpfen werthaltiger Gespräche auf dem Weg zum Value Center mit sich bringen. Dabei ist davon auszugehen, dass die ersten drei Kategorien dieser Kontaktsteuerung das Kontaktvolumen verringern, die letzte hingegen mehr Ressourcen benötigt.
Ausgehend davon sollte das neue Zielbild im Hinblick auf das angestrebte Kundenerlebnis, den Servicekatalog, die verwendeten Touchpoints (weniger ist mehr), die wichtigsten Kennzahlen, fundamentale Service-Level-Agreements und den zukünftig angestrebten Personalbedarf und -entwicklungsstand beschrieben werden.
In Bezug auf die Kennzahlen können wir heute nach sechs Jahren des Betriebs des Service-Excellence-Cockpits klar nachweisen, dass Unternehmen, die nach Kennzahlen führen, die ein systematisches Lernen im Unternehmen begünstigen (wie dem NPS, dem Customer Effort Score, der FCR oder der Self-Service-Quote), wesentlich besser performen als Unternehmen, die sich mit dem Service-Level in rein operative Symptombekämpfung üben und damit einem immerwährenden Hamsterrad aussetzen.
Abbildung 2: Beispiele Value-Irritant-Matrix (Quelle: erweitert nach Price/Jaffe 2006)
Geplante Rückrufe statt grosses Call-Center
Um dieses Zielbild in annehmbarer Zeit erreichen zu können (wir gehen aufgrund der Erfahrungen von zwei bis drei Jahren aus), muss ein Unternehmen grundsätzliche Entscheidungen treffen, um die oben skizzierten dummen Ideen 1 bis 3 zu vermeiden. So ist ein Self-Service Portal beispielsweise nur dann wirklich wirksam, wenn man auf die Kommunikation einer Telefonnummer oder E-Mail-Adresse konsequent verzichtet. Menschen wählen nämlich immer den Weg, den sie schon mal gegangen sind.
Amazon macht seit Jahren vor, wie man mit genau diesem Vorgehen sehr erfolgreich sein kann. Dabei soll die Möglichkeit eines Telefonats auf keinen Fall wegfallen, denn geplante Rückrufe sind jeweils bis zu 30 % günstiger als die Infrastruktur für grosse Anrufvolumina vorzuhalten.
Die wichtigste Entscheidung betrifft aber die Daten der Kundschaft. Ein wie auch immer gearteter Service an anonymen Kunden ist nicht möglich. Gescheiterweise wird eine Identifikation des Kunden also grundsätzlich vor einem Self-Service oder persönlichen Kontakt vorgenommen. All diese Entscheidungen bedingen eine Abkehr von bisher liebgewonnenen Gewohnheiten und sorgen für Diskussionen im Unternehmen. Hier ist ruhige, konsequente Führung gefragt.
Der Autor
Prof. Dr. Nils Hafner ist internationaler Experte für die Gestaltung profitabler Kundenbeziehungen. Er ist Professor für Kundenmanagement an der Hochschule Luzern Wirtschaft in der Schweiz. In seinem Blog «Hafner on CRM» und seinem Podcast «Hafners CX Podcast» berichtet er über Trends und Skurrilitäten des Kundenmanagements. 2019 erschein sein Amazon Nr. 1 Bestseller «Die Kunst der Kundenbeziehung» bei Haufe in der zweiten Auflage.
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