Die Dampfmaschine läutete die erste industrielle Revolution ein, während die Zweite von der Erfindung des Förderbandes dominiert wurde (Abbildung 1). Die dritte Revolution ist geprägt durch die Massenproduktion und die Entwicklung von speicherprogrammierbaren Steuerungen, die in der modernen Robotik ihren Höhepunkt aufweisen. Das Ziel von Industrie 4.0 – der vierten industriellen Revolution – ist es nun, die individualisierte, flexible Produktion zu fördern und kundenspezifische Kleinserien mit den Mitteln der Massenproduktion zu fertigen.

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Abbildung 1: Zukunft der Massenproduktion nach Bauernhansl et al: Industrie 4.0 in Produktion, Automatisierung und Logistik, Springer 2014

Die klassische Automation geht hierarchisch vor, was auch schon in der Automationspyramide klar ersichtlich ist. Befehle werden von oben nach unten weitergegeben und Regel- kreise beschränken sich meistens auf den ei- genen Prozess. Diese klassische Struktur wird nun aufgeweicht, und es entstehen beliebige Informationskanäle zwischen den verschiedenen klassischen Automationshierarchiestufen.

Cyber-physische Systeme (CPS) bilden den Kern und beschreiben das digitale Modell des Produkts. Ein Produkt entsteht virtuell und wird laufend mit gemessenen Echtzeitdaten aktualisiert. Digitales Modell und reales Pro- dukt werden zu einer Einheit und steuern somit den Fertigungsprozess. Es braucht also eine gewisse Intelligenz und genügend Informationen über jeden laufenden Prozess, damit die gesamte automatisierte Fertigung zu einem einzigen integrierten Mess- und Regelkreis wird.

Beispiel der Armaturenfertigung

Ein Beispiel für die beschriebene Entwick- lung ist die Armaturenfertigung: Armaturen müssen heute mehr sein als nur Wasserhäh- ne. In einem schön gestalteten Bad oder einer durchgestylten Küche sind Designerarmaturen gefragt. Die erhöhten Ansprüche an die Form

haben ihre Auswirkung auf die Produktions- technik. Besonders beim Schleifen und Polieren der Designoberflächen mit dem Roboter zeigen sich sehr spezielle Herausforderungen.

Der Schleif- und Polierprozess bei der Her- stellung von Armaturen für Küche und Bad  ist eine zentrale Kernkompetenz der Firma Franke Water Systems AG KWC in Unter- kulm. Ursprünglich war dies ein Handarbeits- schritt, der von erfahrenen Facharbeiterinnen und -arbeitern ausgeführt wurde. Heute hat der Industrieroboter in diesen Fertigungsbe- reich Einzug gefunden. Die Armatur-Rohlinge werden an ein über eine Kontaktrolle geführ- tes Schleifband gepresst, um die gewünschte Oberflächenqualität der Designarmatur zu erhalten. Aufgrund geometrischer Schwan- kungen der Armatur-Rohlinge und wegen Prozessunsicherheiten ist es erforderlich, die programmierte Roboterbahn oder einzelne Fertigungsparameter kontinuierlich anzupas- sen. Nur so kann den hohen Qualitätsanfor- derungen gerecht werden. Ein Grossteil des Prozess-Knowhows liegt dabei bei den Einrichtern und führt in der Praxis dazu, dass bei neu entwickelten Teilen ein langwieriger Iterationsprozess zwischen der Herstellbarkeit und dem Design eines Produkts besteht.

Im Rahmen eines Forschungsprojekts an der Hochschule für Technik FHNW wurde der Schleifprozess inklusive Roboterkinematik modelliert und ein zusätzlicher Aktor hinter der Schleifscheibe angebracht. Durch das dy- namische Prozessmodell kann die hoch- und tieffrequente Dynamik des Schleifens geregelt werden. Diese Kraftregelung führt zu einem konstanten Abtrag am Werkstück und das digitale Modell ermöglicht die einfache Inte- gration beispielsweise von Abweichungen aus dem Giessprozess.

Ziel ist es nun, den gesamten Fertigungsprozess  vom  Giessen  bis  zum  Polieren zuverknüpfen (horizontale Integration) und die Fertigungs- und die Herstelldaten mit Hilfe eines zentralen, virtuellen Fertigungsmodells der Armatur zu steuern, regeln und überwachen. Dieser digitalisierte Fertigungsprozess soll zusätzlich vertikal integriert werden, um die Konstruktion und Planung neuer Armatu- renformen auf Basis des digitalen Fertigungs- prozessmodells durchzuführen (Abbildung 2), insbesondere die Formgebung und das Schlei- fen und Polieren der Freiformflächen.

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Abbildung 2: Horizontale und vertikale Integration

Die dabei erzeugten Prozessdaten werden die Bahnplanung für die Roboter des Freiformschleifprozesses automatisch generieren und als Sollwerte für die durchzuführenden Fertigungsprozesse aufbereiten.

Die geplante horizontale und vertikale Prozessintegration der Armaturenherstellung erlaubt es, eine Radikalinnovation sowohl im Design-, als auch im Herstellprozess zu initiieren. Die Vision der Industrie 4.0 ermöglicht es KWC, Armaturen softwaregestützt so zu entwickeln, dass ihre Fertigungsdaten direkt am PC erzeugt und in die Produktionsstrasse eingespeist werden. Die entworfenen Arma- turenformen werden prozessintegriert auf  ihre Herstellbarkeit hin überprüft. Der heu- tige, manuelle Einrichtprozess für Neupro- dukte entfällt dadurch, bzw. wird digitalisiert. Durch die lückenlose Prozessüberwachung wird die Fertigungsqualität einer Armatur laufend mit Hilfe gemessener Prozessdaten in situ optimiert und das Resultat automatisch dokumentiert.

Neue Möglichkeiten, neue  Chancen

Industrie 4.0 eröffnet die Etablierung von neuen Geschäftsbereichen. Sie erlaubt es, kundenspezifische individualisierte Produkte mit Losgrösse 1 herzustellen. In der Automo- bilbranche kann so zum Beispiel das eigene, gewünschte Auto im Online-Konfigurator zu- sammengestellt und direkt produziert werden. Die Produktionsstrassen können identisch ausgerüstet werden und greifen alle auf die- selben digitalen Modelle und Programmierse- quenzen zurück. Dadurch kann ein wesentlich breiteres Spektrum von Produkten mit densel- ben Produktionsmitteln gefertigt werden.

Cyber-physische Systeme verknüpfen  also die virtuelle Produktentwicklung und Pro- duktionsplanung mit der realen Welt der Fertigung. Als wichtiges Grundelement eines Industrie 4.0-fähigen Systems steht das vali- dierte Modell des Prozesses. Ohne zusätzliches Wissen über den eigentlichen Prozess wird es nie möglich sein, diesen in den übergeordne- ten Regelkreis zu integrieren. Der Ansatz der Industrie 4.0 ist auch eine Chance für KMUs: Die Technologie erlaubt kleine Stückzahlen oder sogar individuelle Einzelstückproduktion mit Mitteln der Massenproduktion.

topsoft Magazin_15-4_word_Seite_24_Bild_0001Claudio Birrer
Master of Science FHNW in Engineering
www.fhnw.ch/technik