Business Software soll auf der einen Seite genügend Funktionen und Flexibilität haben, damit sie die Prozesse im Unternehmen abbilden und unterstützen kann. Auf der anderen Seite soll sie von unterschiedlichen Nutzern rasch und effizient eingesetzt werden können. Wie die Realität zeigt, bleibt letzteres oft auf der Strecke. Kollidieren hier also zwangsläufig unvereinbare Anforderungen? Nein, man muss es nur richtig anpacken.

Aus Sicht der Ergonomie ist Business Software ein spannendes Thema. Hier treffen verschiedene, sich eigentlich widersprechende Grundanforderungen aufeinander. Auf der einen Seite braucht die Software einen vergleichsweise grossen Funktionsumfang, damit sie die verschiedenen Prozesse eines Unternehmens angemessen abbilden und unterstützen kann. Zudem soll sie flexibel sein, damit sie zu unterschiedlich grossen Unternehmen passt und den ständig ändernden Prozessen folgen kann. Auf der anderen Seite soll aber gerade Business Software von sehr unterschiedlichen Anwendertypen möglichst rasch und effizient genutzt werden können.

Wohin das in der Realität gelegentlich führt, zeigt sich beispielsweise an den erratischen ERP-Kolossen, die heute den Markt dominieren. Dort siegt oft die Komplexität über die Benutzerfreundlichkeit. Aber auch Anwendungen für die Kundenpflege (CRM), das Projektmanagement, die Finanzwirtschaft oder die Personalpflege (HRM) geraten – etwas überspitzt gesagt – gern derart komplex, dass es tagelange Schulungen braucht sind, um nur schon ein Teilmodul davon zu verstehen. Kommt noch dazu, dass sie Bedienoberflächen haben, deren Anmutung nicht weit über die einer Tabellenkalkulation hinausreicht. Und bis die Nutzer effizient damit arbeiten können, steht oft schon die nächste Version vor der Einführung.

Dabei wäre gerade Business Software ein Paradebeispiel dafür, wie man mit einem nutzergerechten Bedienkonzept im Unternehmen viel Zeit, Geld und Nerven sparen könnte. Schliesslich soll der Aufwand, den sie auf Nutzerseite verursacht, nicht einen Teil des angestrebten betrieblichen Nutzens wieder zunichtemachen.

Lässt sich der Widerspruch zwischen grossem Funktionsumfang und guter Bedienbarkeit überhaupt auflösen? Ja, durchaus – im Folgenden drei Leitsätze, die dabei helfen.

Erstens: Kenne deine Nutzer

Wenn es um Usability geht, gibt es Spezialisten, die beigezogen werden können und sollen. Wer die richtigen findet, profitiert von ihrem Wissen und ihrer Erfahrung. Sie helfen, die Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine zu optimieren. Idealerweise fungieren sie in Softwareprojekten als Mittler zwischen Nutzern, Business und Entwicklern. Das Ergebnis ihrer Arbeit hängt aber weitgehend davon ab, wie genau sie das Verhalten und die Bedürfnisse der Nutzer einschätzen können. Dies vorauszusehen ist aber gar nicht immer möglich, weil sich Menschen oft deutlich weniger rational verhalten, als wir es gerne hätten. Diese Irrationalität kann aber schlimmstenfalls ganze Strategien und Geschäftsideen ins Leere laufen lassen. Die Hersteller von Consumer-Produkten haben das mittlerweile erkannt. Bei der Entwicklung von Business-Software scheint diese Einsicht aber noch nicht besonders weit verbreitet zu sein. Doch gerade hier wäre es sinnvoll, zuerst abzuklären, wie Durchschnittsnutzer grundsätzlich „funktionieren“. Ihr Verhalten ist zu einem rechten Teil geleitet von Wünschen, Bedürfnissen, Ängsten, Abneigungen und so weiter. Obschon es schwierig klingt: Solche Aspekte sind heute recht zuverlässig messbar. Die Wissenschaft, die sich damit befasst, heisst Verhaltensökonomie (neudeutsch: Behavioral Insights). Sie untersucht die Treiber hinter menschlichem Verhalten mit wissenschaftlichen Methoden und macht die Irrationalität bis zu einem gewissen Grad vorhersehbar.

Hierzu bedient sie sich Experimenten, die das Verhalten von Menschen in einem bestimmten Kontext messen. Im Prinzip handelt es sich dabei um eine spezielle Art von Umfragen bei grossen repräsentativen Gruppen. Ein typisches Beispiel sind randomisierte kontrollierte Studien (Randomized Controlled Trials, RCTs), wie sie oft in der medizinischen Forschung angewandt werden. Das funktioniert etwa so: Um beispielsweise zu testen, wie eine bestimmte Änderung an der Bedienoberfläche auf das Verhalten wirkt, wird sie einer (zufällig ausgewählten) Teilgruppe von Studienteilnehmern vorgesetzt. Die andere Gruppe erhält die unveränderte Version. Nach einer bestimmten Zeit lässt sich die Wirkung der Massnahme anhand des unterschiedlichen Verhaltens der beiden Gruppen messen.

Die Verhaltensökonomie kann also den klassischen Usability-Ansatz in einem heiklen Punkt ergänzen: Sie zeigt den Effekt von unterschiedlichen Herangehensweisen auf das Verhalten der Nutzer. Damit lassen sich schon sehr früh in Projekten Handlungsoptionen modellieren und testen. Die Modelle können dabei ähnlich aussehen wie wir sie vom Usability-Prozess her kennen. Im Gegensatz zu ihnen bieten sie aber stabilere Grundlagen, weil sie zusätzlich mit viel Empirie und Evidenz aus dem realen Kontext unterfüttert sind.

Zweitens: Sorge für eine Kultur, die Innovation schafft

Für die Umsetzung von ergonomischen Anforderungen in der Softwareentwicklung gibt es heute bewährte Konzepte. Insbesondere bei agil aufgesetzten Projekten lassen sich Usability und Softwareentwicklung gewinnbringend miteinander verschränken. Was weniger bekannt ist: Unter den richtigen Rahmenbedingungen lässt sich dabei auch zusätzliches Innovationspotenzial mobilisieren.

Voraussetzung dafür ist, dass die Beteiligten dazu bewegt werden, ihre eigene Komfortzone zu verlassen, sich thematisch und fachlich in neues Terrain vorzuwagen. Dann verlassen die Entwickler ihre „sichere“ technische Ecke und bewegen sich auf die eher schlüpfrig empfundene Welt von Usability-Experten und Interaction Designer zu. Umgekehrt treten letztere aus ihrer kreativen Spielwiese heraus und nähern sich den trockenen technischen Sphären von Programmierern und Datenbankspezialisten. Dadurch entstehen neue Sichtweisen auf dieselbe Aufgabe, frische Ideen und originelle Ansätze.

Damit das gelingt, braucht es bestimmte Voraussetzungen – hier die wichtigsten davon:

  • Es muss klar und verbindlich festgeschrieben sein, was im Projekt entstehen soll (ein neues Produkt, ein Service, oder nur eine neue Funktion etc.). Das liefert die Grundlage dafür, dass sich in den Köpfen aller Beteiligten ein gemeinsames Ziel festsetzen kann.
  • Es muss definiert sein, was in Code umgewandelt wird. So entsteht Sicherheit bezüglich des Auftrags und Klarheit bei den Zuständigkeiten. Das steigert die Effizienz und schafft so den nötigen Freiraum, um „fachübergreifend“ nach innovativen Lösungen zu suchen.
  • Es braucht eine Kultur, die den Innovationsprozess fördert. In agilen Projekten heisst das: Der erhöhte Bedarf an Kommunikation, Kooperation, gegenseitigem Respekt und Verständnis muss gedeckt sein.
  • Es braucht den richtigen Projektleiter. Er ist in agilen und innovationsgetriebenen Prozessen nicht nur für Organisation, Strukturierung, Controlling zuständig, sondern auch für besagte Atmosphäre, die Kreativität erst ermöglicht. Hierfür braucht er den Blick fürs grosse Ganze, Erfahrung, Empathie und starke Nerven.

Drittens: Prototyp das!

Dass man – zumal umfangreiche – Software vor dem Veröffentlichen an Nutzern testet, ist heute keine Frage mehr. Nur, wenn dies erst am Schluss, am quasi fertigen Produkt geschieht, ist es unter Umständen sehr aufwendig bis unmöglich nachzubessern. Deshalb empfiehlt es sich, Usability- respektive Benutzertests schon sehr früh im Projektverlauf fix vorzusehen. Agile Methoden bieten hier einen guten Rahmen mit ihren kurzen Sprints. So lässt sich vermeiden, dass Teile oder ganze Projekte in ergonomische Sackgassen rasen.

Ein bewährtes und wirksames Mittel gegen allerlei Usability-Katastrophen sind Prototypen, an denen sich die Mensch-Maschine-Interaktion testen lässt. Sie helfen etwa Mängel in den Anforderungen aufzudecken. Was aber oft übersehen wird: Sie verbessern auch die Kommunikation innerhalb des Projektteams, also zwischen IT-Fachleuten, Auftraggebern und Nutzern. Dies tun sie, indem sie anhand eines konkreten Beispiels zeigen, wo es Missverständnisse zwischen den Beteiligten gibt. Die sind ja einer der grossen Stolpersteine in Softwareprojekten. Sie sind auch kaum zu vermeiden, weil die Beteiligten in unterschiedlichen Kontexten arbeiten, ihre eigene Sprache sprechen und Prioritäten womöglich auch noch anders setzen. Während die Nutzer einfach Lösungen haben wollen, interessieren sich IT-Fachleute eher für technisch elegante Lösungen. Und den Kollegen aus dem Business fällt es oft schwer, die Dinge nicht nur durch die Firmenbrille zu sehen. Ein Prototyp zeigt allen offensichtlich und neutral, wo Interessen kollidieren, wo etwas vergessen, nicht genügend genau definiert wurde.

Fazit

Wer diese Leitsätze bei der Entwicklung einbezieht und ernst nimmt, dürfte am Ende eine Software erhalten, die nicht nur technisch gut und innovativ ist, sondern von den Nutzern auch geschätzt wird. Damit schafft er sich einen Vorteil in einem Markt, der nicht gerade mit ergonomisch herausragenden Produkten übersättigt ist. Dies ist nicht zu unterschätzen in einer Welt, in der für die meisten Nutzer die guten Apps auf dem Smartphone das Mass der Dinge in Sachen Ergonomie sind.

 

Der Autor

Dr. Christopher Müller ist CEO der Die Ergonomen Usability AGDr. Christopher H. Müller ist Gründer, Inhaber und CEO von Die Ergonomen Usability AG.
Dr. Müller promovierte 2000 am Institut für Hygiene und Arbeitsphysiologie der ETH. Er gehört mit seiner langjährigen Erfahrung zu den führenden Usability-Experten in der Schweiz.