Für Veränderungsprozesse im Allgemeinen und für die Einführung von Business Software im Speziellen ist die Unternehmenskultur ein entscheidender Faktor. Weichen die «gelebten» Regeln zu stark von den eigentlich definierten Prozessen ab, entstehen riskante Situationen. Mit der «Strukturierten Kontext Analyse» lassen sich die Differenzen zwischen geplanter oder vorgegebener und effektiv gelebter Unternehmenskultur ermitteln und mit gezielten Massnahmen bereinigen.

Bei der Einführung von Business Software werden bestehende Prozesse überarbeitet und auf mehr Effizienz ausgerichtet. Daten werden so im System abgelegt, dass eine Weiterverarbeitung einfach möglich ist. In Unternehmungen ist man sich in der Regel einig, dass Prozesse wichtig sind und bei Anpassungen Schulungsbedarf besteht. Die Realität zeigt aber, dass auch bei Organisationen mit grossem Prozessbewusstsein die Prozesse oft ungenügend gelebt werden. Das Verhalten der Mitarbeitenden wird durch die Unternehmenskultur beeinflusst – positiv oder negativ.

Betrachten wir das Beispiel eines Sachbearbeiters einer Handelsfirma. Kurz vor Feierabend hat der Vorgesetzte noch die letzte Version eines Kundenvertrags fertiggestellt. Der Sachbearbeiter ist unter Druck; er sollte seine Kinder im Kinderhort abholen. Vom Chef ist er angewiesen, alle Dokumente immer im Dokumenten Management System (DMS) abzuspeichern und zu kategorisieren. Weil der Anmeldeprozess ins DMS aufwändig und langsam ist, speichert der Sachbearbeiter das Dokument auf seinem Desktop und verlässt das Büro. Er ist sich bewusst, dass er dies nicht tun sollte, da der Verkäufer mit einer alten Version des Dokumentes zum Kunden gehen könnte. Obwohl der Sachbearbeiter Prozesse, Gefahren und Konsequenzen kennt, legt er das Dokument nicht im DMS ab. Seine Arbeitskollegen tun dies auch, wenn die Zeit knapp ist. Trotz bestehender Prozessbeschreibungen und Software-Unterstützung ist es «nicht schlimm», wenn man sich nicht an die Anweisungen hält. Prompt verwendet der Aussendienstmitarbeiter am nächsten Tag die falsche Version aus dem DMS für seinen Kundenbesuch. Dieses einfache Beispiel zeigt, dass im IT-Bereich der Mensch immer das schwächste bzw. unberechenbarste Element ist. Das Handeln des Einzelnen zu kontrollieren, ist mit realistischem Aufwand nicht zu bewerkstelligen. Trotz klarer Regeln und Prozessen kommt es unter gewissen Voraussetzungen immer wieder zu einem Fehlverhalten. Je nach Tragweite des Regelbruchs ist das Kerngeschäft mehr oder weniger gefährdet. Das 4-Kräfte-Modell soll helfen, diese Risiken zu kontrollieren.

Die vier Kräfte zur Definition des SOLL-Zustandes

  1. Kraft: Definierte Prozesse
    Überarbeitung, Definition und kontinuierliche Verbesserung von Prozessen und Abläufen sowie Schulung der zugehörigen Rollen und Aufgaben der Mitarbeitenden.
  1. Kraft: IT-Systeme
    IT-Systeme und Business Software sollen Mitarbeitende kontrolliert und überwacht durch die Prozesse leiten.
  1. Kraft: Führung
    Die Vorgesetzten beeinflussen das Mitarbeiterverhalten mit geeigneten Führungsinstrumenten und verhindern bzw. beugen Fehlverhalten vor.
  1. Kraft: Weisungen
    Was technische und organisatorische Massnahmen nicht abdecken können, wird in Form von Weisungen und Vorschriften abgedeckt.

Nebst den vier Kräften Prozesse, IT, Führung und Weisungen beeinflussen die unbewussten Regeln der Unternehmenskultur das Handel der Mitarbeitenden (Abbildung 1).

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Abbildung 1: Nebst den vier Kräften Prozesse, IT, Führung und Weisungen beeinflussen die unbewussten Regeln der Unternehmenskultur das Handel der Mitarbeitenden ©Roger Busch

Die Mitarbeitenden sind den vier Kräften dauernd ausgesetzt und sich dessen auch bewusst. Vermeintlich scheint alles definiert, aber es gibt immer wieder Situationen, in denen Mitarbeitende sich trotzdem nicht an die vier Kräfte halten. In diesen Situationen handeln sie nicht etwa eigenmächtig oder zufällig, sondern setzen sich nach bestem Wissen und Gewissen über die deklarierten Regeln hinweg. Ihr Handeln richtet sich nach der bisher nicht bewirtschafteten fünften Kraft. Diese Kraft beinhaltet die unbewussten Regeln, die in der Unternehmenskultur verankert sind.

Kultur fördert oder verhindert Fehlverhalten

Wie stark sich Mitarbeitende gemäss Richtlinien und Vorgaben, d.h. nach den vier Kräften verhalten, ist nicht abhängig von der Anzahl der Vorgaben, sondern vielmehr von der Unternehmenskultur, in der sie arbeiten. Die innere Logik der jeweiligen Kultur entscheidet, ob Mitarbeitende auf das Fehlverhalten eines Kollegen reagieren oder ob sie es ignorieren oder gar rechtfertigen. Nur ein kleiner Teil dieser inneren Logik, die in Handlungsregeln beschrieben werden kann, ist den in dieser Kultur lebenden Menschen jeweils bewusst. Der Rest dieser Logik ist den Beteiligten nicht bewusst, jedoch für Aussenstehende je nach Situation beobachtbar.

Die Kultur eines Unternehmens fördert oder behindert das Fehlverhalten von Mitarbeitenden nach einer ganz eigenen Logik. Ob Kollegen wegschauen oder auf das Fehlverhalten eines Gruppenmitgliedes reagieren, ist abhängig von der Kultur in genau diesem sozialen System. So verhält sich das gleiche Individuum in verschiedenen sozialen Systemen intuitiv unterschiedlich. Ein Geschäftsmann wird sich auf dem Golfplatz anders verhalten als mit seinen Kollegen im Eishockey-Stadion, da er die festgeschriebenen und ungeschriebenen Regeln auf dem Golfplatz kennt und weiterhin Teil des sozialen Systems «Golfclub» sein will.

Regeln in sozialen Systemen beschreiben dessen Kultur

Ein soziales System entsteht, wenn Menschen miteinander interagieren. Dabei kann es sich um eine Partnerschaft, eine Familie, ein Team, eine Firma oder eine ganze Gesellschaft handeln. In jedem sozialen System gibt es bewusste und unbewusste Regeln, an die sich jedes darin integrierte Individuum richtet. Das bewusste und unbewusste Erlernen dieser Regeln nennt man Sozialisierungsprozess. Kultur wird entgegen dem weit verbreiteten Mythos in Wirtschaftsakademien nicht von oben per Stellschraube, Strategie oder Leitbilder definiert, sondern sie entsteht automatisch in einem komplexen Prozess aus dem sozialen System heraus, mit den beteiligten Individuen, den Ereignissen der Umwelt und den Rahmenbedingungen, in denen sich das System befindet. Das bedeutet, dass Kultur in dem Moment entsteht, in dem Individuen miteinander in Interaktion treten. Ab dann kann diese Kultur durch bewusstes und geschicktes Setzen von Impulsen oder Verändern von Rahmenbedingungen gelenkt werden.

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Abbildung 2: Die drei Ebenen – deklarierte Organisation, gelebte Organisation und kollektiv Unbewusstes – stehen in konstanter Interaktion und beeinflussen sich gegenseitig. ©Altervision GmbH

Die Kultur einer Unternehmung beeinflusst das Verhalten der Mitarbeitenden massgeblich, denn sie ist aus dem System heraus entstanden. Das Mass der Beeinflussung durch die Kultur ist um Faktoren grösser als die Beeinflussung durch die vier Kräfte, da es sich um in der Gruppe verinnerlichte kollektive und unbewusste Verhaltensmuster handelt. Dies lässt sich mit dem Systemmodell in der Abbildung 2 veranschaulichen. Ein soziales System wird dabei durch drei miteinander in konstanter Interaktion und gegenseitiger Beeinflussung stehenden Ebenen dargestellt:

Deklarierte Organisation
Auf dieser Ebene wird isoliert, was im sozialen System bewusst festgehalten ist, wie gearbeitet wird oder wie man sich verhält. Wie die vier Kräfte, sind das Leitbild und die Strategie einer Unternehmung immer auf dieser Ebene zu finden.

Gelebte Organisation und Umsystem
Um eine Organisation zu definieren und zu beobachten, muss eine Systemgrenze zu anderen umliegenden Systemen gezogen werden. Kunden, Lieferanten und Partner zählen zum Umsystem, bzw. der Umwelt, in der sich die Organisation bewegt. Es handelt sich dabei um die Ebene der gemeinsamen Realität. Auf dieser Ebene findet die Organisation statt.

Kollektiv Unbewusstes
Auf der unteren Ebene befinden sich alle unbewussten und verinnerlichten Verhaltensregeln, welche sich im Laufe der Zeit mit allem Wissen und Erfahrungen vor dem Hintergrund von Werten und Überzeugungen sedimentieren. Da man die Verhaltensregeln auf der Ebene der gelebten Organisation beobachten kann, können diese Regeln beschrieben werden. Deshalb nennt man diese Ebene auch die Ebene der Regelleitung, welche wiederholt, und damit nachweislich das Handeln der Akteure auf der Ebene der gelebten Organisation anleitet. Sie sind in der Summe als das sichtbar, was man als Kultur bezeichnet.

Diese Regeln übernimmt jeder neue Mitarbeitende im Laufe der Zeit. Nur der kleinste Teil wird ihm mit dem Vermerk «bei uns macht man das so…» weitergegeben. Der Rest wird im Rahmen der Sozialisierung erfahren. Im Rahmen des Sozialisierungsprozesses werden nicht nur die «do’s and dont’s» vermittelt oder was richtig oder falsch ist, sondern eine grosse Anzahl von weiteren Gesetzmässigkeiten und Regeln. So auch das Verhalten in bestimmten Situationen unter bestimmten Bedingungen. Mit der «Strukturierte Kontext Analyse» ist es durch das präzise Legen eines Kontexts möglich, genau das Regelset herauszufiltern, das für einen bestimmten Umstand verantwortlich ist.

Differenzen zwischen deklarierter und gelebter Organisation

Zwischen der Ebene der Deklaration und der Ebene der gelebten Organisation gibt es in jeder Organisation augenscheinliche Abweichungen. Diese Abweichungen werden sichtbar, wenn sich Mitarbeitende wiederholt und offensichtlich bewusst nicht an vorgegebene Prozesse halten. Grundsätzlich kann davon ausgegangen werden, dass Mitarbeitende Instruktionen und Anweisungen nach bestem Wissen und Gewissen anwenden. Steigt aber der Druck oder weichen die Anweisungen zu stark von der gelebten Realität ab, werden die meisten Mitarbeitenden intuitiv die in der Kultur für diese Situation eingeübten Regeln aus dem kollektiven Unbewussten anwenden. Sie tun dies, obwohl diese gegen geltende Regeln und Prozesse verstossen. Je grösser die Differenz zwischen der deklarierten Ebene und der durch die Ebene des kollektiv Unbewussten angeleiteten gemeinsamen Organisationsrealität ist, um so grösser ist das Risiko einer Unternehmung, dass die Mitarbeitenden Prozesse und Anweisungen in bestimmten Situation nicht befolgen und damit Risiken in Kauf nehmen.

Ermittlung der Differenz

Die Diskrepanz zwischen der gelebten und der deklarierten Organisation stellt für das Unternehmen ein Risiko dar und sollte minimiert werden. Ist die Differenz zwischen den beiden Ebenen bekannt, kann mit geeigneten Massnahmen die gewünschte Veränderung zur Risikoreduktion angegangen werden. Die Firma Altervision GmbH hat eine Methode zur Bestimmung der Differenz zwischen gelebter und deklarierter Organisation entwickelt. Auf der Basis von Dokumenten und Gesprächen aus dem betrieblichen Alltag, werden mit Hilfe der «Strukturierten Kontext Analyse» (SKA) die kulturellen Regeln der Organisation im Rahmen eines vorher definierten, zu untersuchenden Kontexts (z.B. Umgang mit Kundendaten) ermittelt (Ist-Zustand). Die Ergebnisse werden dann mit der Ebene der Deklaration (Soll-Zustand) verglichen. Die SKA deckt die hinter dem täglichen Handeln verborgenen, unbewussten Regeln und Denkweisen einer Organisation auf. Die Methodik der SKA basiert auf der wissenschaftlichen Theorie der objektiven Hermeneutik nach U. Oevermann und der «Theorie der Praxis» nach P. Bourdieu sowie systemtheoretischer Modelle nach F. Glasl und E. Schein. Für die erfolgreiche Einführung von Business Software müssen Menschen dazu bewegt werden, Veränderungen anzunehmen. Durch den Einsatz der SKA können Gründe, welche die Veränderung verhindern oder erschweren, schnell und effizient ermittelt werden.

RogerRogerRoger Busch, Inhaber der busch-consulting GmbH, berät Unternehmen bei der Auswahl und Einführung von Business Software und bei Veränderungsprozessen. Als Elektroingenieur HTL mit Weiterbildung zum Wirtschaftsingenieur FH und EMBA Abschluss der Universität Zürich ist er ein kompetenter Ansprechpartner für technische und betriebswirtschaftliche Fragen.

www.busch-consulting.ch

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Christian Ott ist Unternehmer und Inhaber der Altervision GmbH. Er unterstützt Unternehmen darin, ihre kulturellen Ressourcen für Changeprojekte zu nutzen. Als IT- und Organisationsberater begleitet er Firmen in Projekten an der Schnittstelle zwischen IT, Prozessen und Organisation.

www.altervision.ch