Top-Digitalisierung im Schwellenland Georgien – Wie geht das?

04.06.2024
5 Min.

Wo liegt Georgien? Zugegeben, viele hätten Mühe, den Staat auf einer weissen Karte zu lokalisieren. Doch das kleine Land hat kulturell und landschaftlich viel zu bieten. Aber Georgien kann noch mehr: Die Digitalisierung ist in vielen Bereichen weiter fortgeschritten als im Westen. Gerold Schlegel lebt in Georgien und berichtet über die Digitalisierung und das gelungene Zusammenspiel von Moderne und Tradition.

 

Sicht vom Verwaltungsgebäude in Tiflis Richtung Friedensbrücke (links) und Altstadt (rechts) (Bild Gerold Schlegel)

 

Georgien liegt im Kaukasus und ist ein Land der Tradition und der Moderne. Widersprüche sind in diesem Land die Regel.

Die Strassen sind ein Beispiel dafür: Die Autobahn von Tiflis nach Kutaissi ist bestens ausgebaut und komplett beleuchtet mit modernsten LED-Strassenlampen. Doch auch Bushaltestellen auf der Autobahn sind normal. Das eigenartige Exemplar mit separatem Aus- und Zufahrtsstreifen kann schon mal als Rastplatz verwechselt werden. Für Einheimische ist dies äusserst praktisch, um hier Dorfbewohner zu- und aussteigen zu lassen. Mindestens so oft wird dies jedoch bei Ein- oder Ausfahrten erledigt, was nicht immer ganz ungefährlich ist.

Die Gemüse- und Fruchtstände neben der Autobahn, gleich jenseits der Leitplanken, sind dabei recht harmlos. Obwohl sie den Pannenstreifen zum Kundenparkplatz umfunktionieren. Und wer hat schon Kühe auf der Autobahn gesehen? Hier in Georgien keine Seltenheit, sie fressen das Gras, das auf dem um ca. 1 Meter erhöhten Mittelstreifen wächst, der gerade mal ca. 1,5 Meter breit ist.

Bei den Hauptstrassen gibt es alles, vom Schweizer Standard über Wellblech- bzw. Buckelpisten bis hin zu feinstem Belag. Oftmals findet man Schlaglöcher, gross genug für Schweine, oder auch Strassen, die eher besseren Wanderwegen ähneln.

Überraschend digital unterwegs

Doch bei der Digitalisierung sieht es ganz anders aus. In diesem Artikel soll durch Beispiele klarer werden, wo und wie Georgien die Digitalisierung nutzt und davon auch profitiert. Die möglichen Auslöser werden ebenso angesprochen wie die Hintergründe dieses digitalen Vorsprungs gegenüber der Schweiz. Das Erstaunlichste dabei sind die vielen Jahrtausende alten Traditionen und Bräuche innerhalb der Gesellschaft und des Handwerks, welche noch heute gelebt werden, gekoppelt mit dem Modernen. Salopp gesagt funktioniert alles so, damit das Leben der Georgier erleichtert wird.     

Den Verwaltungswahnsinn und Regulierungswahn aus Europa und der Schweiz ist kaum zu finden in Georgien. Das haben die Georgier dem früheren Justizminister und Präsidenten Micheil Saakaschwili zu verdanken, einem Vollblutunternehmer. Er hat viele der heute noch bestehenden Voraussetzungen geschaffen. Mit dem Ziel des Bürokratieabbaus hat er gleichzeitig die Entmachtung der Eliten gestartet.

Die westliche Orientierung und die wirtschaftliche Liberalisierung waren zwei wichtige Grundlagen beim Amtsantritt. Dadurch entstanden Voraussetzungen und Projekte von denen Georgien heute noch profitiert. Die wichtigsten waren Infrastruktur (Strassen, Strom, Kehrichtabfuhr…), die Digitalisierung, Bildung, Sozialversicherungen sowie attraktive Rahmenbedingungen für Investoren und Fachkräfte.

In Georgien ist das Leben ohne Bankverbindung möglich, ganz im Gegensatz zur Schweiz. Kein Wunder, denn Tauschhandel ist etwas Selbstverständliches.

Georgier ohne Mobiltelefon hingegen gibt es keine. Dafür umso mehr Handy-Modelle, die in der Schweiz Sammlerwert haben. Diese verfügen nur über die zwei Funktionen Telefon und SMS. Meine zu schnelle Fahrt mit georgischem Kennzeichen macht das deutlich. Die Fahrt auf der Strecke Marani - Kutaissi dauert ca. 30 Minuten. Anstelle von Blitzern wird die Zeit gemessen, die man für einen Fahrabschnitt benötigt. Dazu dienen sowohl mobile wie auch fixe Messstationen. Sie lesen das Nummernschild zu Beginn und am Schluss der Messstrecke.

Die Registrierung des Autos läuft auf meine Partnerin Regina. Deshalb bekam sie eine SMS mit allen Details, bevor ich nach 2,5 Stunden wieder zu Hause war. Kein Briefverkehr. Eine simple SMS in der alles drin steht: Bussen-Nummer, Ort, Zeit, Tempo und Zahlungsfrist.

Gebühren am Automaten bezahlen

Das Bezahlen geht noch einfacher. Fast an jeder Ecke gibt es einen Laden und davor stehen Selfserviceautomaten, die nur mit Mobiltelefon bedienbar sind. Der Beleg ist so zeitnah erhältlich. An diesen Serviceautomaten kann alles, was die Bevölkerung zum Leben braucht, bar bezahlt werden. Also Gebühren aller Art, Polizeibussen, Gas, Strom, TV, Radio, Telefonie, Internet, Einkauf mit Vorauskasse und anderes mehr.

Mir sind bisher keine Diebstähle bekannt im Zusammenhang mit diesen Serviceautomaten, obwohl ein Sackkarren für den Abtransport der mit Bargeld gefüllten Geräte reichen würde. Sie sind freistehend und nur am Strom angehängt. Wie war das gleich mit den Bankomaten in der Schweiz?

Apropos Banken, die mobilen Bankanwendungen sind top. Deshalb sind Bankfilialen auch rar auf dem Land. Wer will denn schon in der Bank anstehen, wenn alles auch digital geht. Wobei die Öffnungszeiten dieser Institute wesentlich kundenfreundlicher sind als jene in der Schweiz. Trotzdem ist ein Besuch in der Bank für mich mehr Alptraum als Genuss, wenn ich die langsame und umständliche Arbeitsweise zu spüren bekomme. Modern und althergebracht ist hier dauernd im Clinch.

Die Kreditkarten-Unternehmen haben in Georgien nie die Macht erlangen können wie im Westen. Mit Bargeld in Georgien zu bezahlen, ist mehr Norm als Ausnahme. Aber aufgepasst, wer die 100-Lari-Note benutzt (ca. CHF 35) hat öfters Mühe mit dem Rückgeld. Üblich ist die Kreditkarte nur bei Markengeschäften oder in Touristenzentren. Georgier kaufen lieber Essen und Wein als unsinnige Jahresgebühren zu zahlen.   

Das zwischen Gesetzen und praktischer Umsetzung grosse Unterschiede bestehen, darf kaum mehr verwundern. Je weniger touristisch und städtisch, umso mehr weicht die praktische Anwendung vom Gesetz ab. Georgische Kreativität sollte niemals unterschätzt werden, um Probleme zu lösen und/oder zu umgehen. Das Improvisationstalent sucht seinesgleichen.

Multifunktionaler „Pilz“

Tiflis ist die Hauptstadt von Georgien und wird oft verglichen mit der Partystadt Berlin. Doch Tiflis ist genauso eine Hochburg von digitalen Nomaden und Krypto-Anhängern. Bezahlen mit Kryptowährungen ist keine Ausnahme an den angesagten Plätzen.

Freunde des Analogen könnten sich eine ganze Woche Wunderwerke der modernen und historischen Architektur bzw. Geschichte zu Gemüte führen. Eine Empfehlung für Freunde der Malkunst sind die fassadendeckenden Graffiti oder riesigen Farbmosaike aus der russischen Zeit. Noch nie habe ich eine solche Dichte schönster Strassen-Kunstwerke gesehen, wie sie in ganz Tiflis anzutreffen sind.

Dann ist da das moderne Verwaltungsgebäude von Tiflis. Im Volksmund als „Pilz“ (Mushroom) bezeichnet. Architektonisch ist es sehenswert, doch das Parterre definitiv einen Besuch wert. Hier wird alles an Administration erledigt, was Firmen und Personen mit Schnittstellen zum Staat brauchen. Ein einziger grosser Raum mit Inseln, nach Themen sortiert. Georgier wissen, dass eh alles über sie bekannt und im Netz ist. Wer unbedingt mithören will, kann das. Die Dokumente liegen öfters offen auf den Tischen herum. Es herrscht eine sehr entspannte Haltung zu Datenschutz und Diskretion. Eine Terminvereinbarung ist nicht nötig. Wer kommt zieht eine Nummer und wartet, bis er dran ist. Für Bettflüchtige das Paradies, denn Georgier sind mehr Langschläfer als Frühaufsteher.

 

Lesen Sie hier den zweiten Teil der Reportage

 

 

Der Autor

Gerold Schlegel lebt heute mehrheitlich in Georgien. Seine Neugier hat den gelernten Koch von der Vorsorge bis in die höchste Liga der Finanzindustrie gebracht. Sein Buch «Neustart für Küche und Geld» liefert viel Wissen für die Geldanlage und für eine schmackhafte Küche. www.meinesache.ch