Wer über digitale Kanäle verkauft, der muss auch liefern können. Und damit meine ich nicht per se den Versand der Waren an die Kunden, sondern getreu dem Sprichwort «liefere nöd lafere» wie Unternehmen die PS auf den Boden bringen und die Anforderungen an die Organisation meistern. Doch wie gelingt es, von den Transformations-Dynamiken, die der Wandel im Handel bietet, zu profitieren? Eine Transformation von aussen nach innen ist dazu unabdingbar. Nur so können neue Erlösströme und Kundenbindung generiert werden.
Landauf und landab steht «Digitale Transformation» zuoberst auf der Agenda und es wird «digitalisiert», was das Zeug hält. Doch oft wird «Digitalisierung» mit «Elektrifizierung» missverstanden: Bestehende Prozesse werden elektronisch abgebildet und nicht ausnahmslos hinterfragt, vereinfacht, neu gedacht, konsolidiert oder eliminiert.
Oder um einmal mehr Thorsten Dirks’ Bonmot zu bemühen: «Wenn sie einen Scheissprozess digitalisieren, dann haben sie einen scheiss digitalen Prozess.»
Der ehemalige CEO von Telefónica Deutschland hat es damit exakt auf den Punkt gebracht: Ein Prozess wird nicht besser, nur weil er elektrifiziert wurde. Mit dieser Denkweise entstehen weder neue Geschäftsmodelle noch können bestehende adaptiert oder skaliert werden noch finden sich damit Wege aus der Transformationsfalle.
Wie neue digitale Services, Produkte und Erlösströme entwickelt werden können, darüber wurde schon oft geschrieben. Was häufig vernachlässigt wird ist jedoch, dass die Organisationen selbst grosse Mühe haben, mit der Entwicklung Schritt zu halten.
Neue Führungs- und Organisationsmodelle
Die Herausforderung liegt in der Gestaltung von neuen Führungs- und Organisationsmodellen. Denn wenn der interne Wandel innerhalb der Unternehmen nicht mindestens gleich schnell getaktet ist wie nach aussen, dann ist Scheitern vorprogrammiert. Das herausragendste digitale Angebot, die optimierteste Customer Journey, die ausgefeilteste Customer Experience nützen nichts, wenn die Ausführung fehlschlägt. Und warum schlägt sie so oft fehl? Weil die Organisation nicht Schritt halten kann, weil die Menschen darin überfordert sind, die neuen Skills entweder nicht verfügbar sind oder sich noch nicht etablieren konnten und es in der Regel ganz oft an Führung und Kultur mangelt.
Ein Beispiel gefällig? Kein Omni-Channel-Händler wird Erfolg haben, wenn es ihm nicht gelingt, die Silos intern einzureissen. Silos in Form von Zuständigkeiten, Silos in Form von Messgrössen und Führungsinstrumenten, Silos in Form von Organisationseinheiten. Ein Kunde wird immer innert Sekunden spüren, ob der Händler auch intern digital transformiert ist und seine Kultur anpasst oder es bloss ein Lippenbekenntnis ist.
Will er als Händler den Kunden optimal bedienen («wir haben den Artikel in Blau nicht hier, dürfen wir ihn für Sie online bestellen und Sie haben ihn morgen zu Hause?») oder muss er weiterhin seine kanalspezifischen Umsatzziele erreichen («wir haben den Artikel in Blau nicht hier. Doch Rot steht Ihnen doch auch gut und den hätte ich gleich da.»)?
Oft handelt ein Filialleiter seinen auferlegten Zielen zuwider, wenn er Umsatz in einen anderen Kanal abgibt. Und dem wird auch so bleiben, wenn sich ein Unternehmen nicht auch intern fundamental wandelt, Umsätze nicht mehr nach Vertriebskanälen, sondern beispielsweise nach Kundengruppen misst, Filialleiter am Online-Umsatz beteiligt und vice-versa und gesamthaft die Ziele am Unternehmens-EBIT festmacht.
Digitalisierung nach aussen und innen
Entscheidend für einen erfolgreichen Transformations-Prozess nach aussen und für manche Branche gleichbedeutend mit dem schlichten Überleben ist der Wandel nach innen im Rahmen des Change-Managements und des Digital Leaderships. Unabdingbar für eine nachhaltige Umsetzung der Strategie sind die kulturellen Veränderungen, welche die Organisation inklusive Systeme fit für das digitale Zeitalter machen.
Denn eine ganzheitliche Transformation des Unternehmens findet strategisch aus zwei Perspektiven statt: Neben der Inside-Out-Implementation und der Digital Market Transformation ist eine nachhaltige Veränderung und konsequente Hinterfragung bestehender Organisationen, Prozesse und Systeme unerlässlich.
Der Markterfolg wird sich kaum manifestieren, wenn nicht gleichzeitig eine Outside-In-Implementation angegangen wird, was beispielsweise mit dem Digital-Culture-Model erreicht werden kann, das sämtliche für eine erfolgreiche Transformation unabdingbaren Fragestellungen und Lösungskomponenten beinhaltet.
Wie ist das Unternehmen intern organisiert und strukturiert, wie geht man mit Innovation und Collaboration um, welche Technologien werden eingesetzt, was ist mit den immensen Datenbeständen und wie werden diese genutzt? Welches Know-how ist verfügbar, steht es allen zur Verfügung, wie wird es geteilt, vertieft, welche Skills bringen die Mitarbeitenden mit und wie bringen sie das Unternehmen weiter?
Mitarbeitende und ihre Stärken, Motivationen aber auch Vertrauen und Freiheiten sind so elementar und zentral wie kaum je zuvor. Wie gegen aussen – wo der Kunde im absoluten Fokus steht – steht auch innen der Mensch – die Mitarbeitenden – im Zentrum.
Nur wer es schafft, diese beiden Perspektiven der Transformation zu synchronisieren, der nähert sich der perfekten Customer-Experience an.
Der interne Wandel ist Nährboden und Grundlage für weitere erfolgreiche Transformationsprozesse. Konnten der Kulturwandel wie auch neue Führungs- und Organisationsmodelle nachhaltig etabliert werden, gelingt auch die Entwicklung neuer Services und Erschliessung neuer Erlösströme.
Denn viele Branchen werden gezwungen sein, sich vom Gedanken zu verabschieden, dass sie vom reinen Verkauf ihrer Produkte genügend Deckungsbeiträge erzielen können. Gleichzeitig stellen reine Verkaufsorganisationen keinen Differenzierungsfaktor mehr dar.
Kundenbindung und neue Erlösströme
Kunden werden noch illoyaler, als sie es ohnehin schon sind. Ein möglicher und erfolgsversprechender Weg ist die Generierung von Lock-In-Effekten und gleichzeitiger Fokus auf Prozesskosten-Optimierung.
Im Maturity-Modell auf Seite 14 lassen sich die Stufen der Evolution am Beispiel B2B exemplarisch zeigen.
Während sich viele B2B-Unternehmen mit einem Onlineshop begnügen und sich damit schon am Ende der digitalen Transformation wähnen, lassen sie ungeahnte Potenziale unerschlossen.
Insbesondere trägt der B2B-Onlineshop allein noch sehr wenig zu möglichen Lock-In Effekten oder Loyalitätsvorteilen bei, noch unterstützt er die Prozesskosten-Optimierung seitens des Kunden und vergibt damit nicht nur eine wichtige Vorteilskommunikation.
Lock-In/Loyalität und Prozesskosten-Optimierung
Je durchdringender die Lock-In-Effekte und je einschneidender die Prozesskosten-Optimierungen, je näher rücken Anbieter und Nachfrager zusammen, sowohl technisch wie auch prozessual, organisatorisch oder gar räumlich.
Wenn wir im B2B-Bereich von digitalen Vertriebsmodellen oder Umsatzzahlen sprechen, gilt es jeweils zu differenzieren, welche Erlöse über Online-/Mobile-Shops, Apps, Devices oder auch Online-Marktplätze und Beschaffungsplattformen erzielt werden und welche durch E-Procurement-Lösungen durch System-Integrationen.
So lohnen sich Systemintegrationen nach unseren Erfahrungen gerade für A-Kunden schnell, da spürbare Prozesskosten-Optimierungen erzielt werden können, auf beiden Seiten. Stillschweigend steigt natürlich auch der Lock-In bei einer entsprechenden IT-Anbindung. Ein Wechsel zu einem anderen Anbieter ist mit grösserem Aufwand verbunden und will mehr als einmal überlegt sein.
Beratungsservices mit Branchen- und Sortiments-Know-how sind für viele Hersteller und Händler eines ihrer wichtigsten Assets. Oft hat sie dies auch gross gemacht und legitimiert sie für ihre Position, die sie heute innehaben. Doch auch diese Position ist im digitalen Zeitalter gefährdet, wenn es nicht gelingt, diese Beratungsservices unterschiedlichster Natur zu transformieren und mit den digitalen Services optimal und effizient zu integrieren.
Kunden mit Services langfristig binden
Bei den Nutzungsservices geht es darum, Zugang und Nutzung der Produkte auf einen neuen Level zu heben. Neue Erlös- oder Geschäftsmodelle gehören hier dazu, die das bestehende Geschäftsmodell ergänzen oder gar konkurrenzieren mögen.
Denkbar und in der Praxis immer wieder anzutreffen sind Miet- statt Kaufkonzepte, Selfservice-Lager mit Verbrauchsmaterial vor Ort, z. B. auf Baustellen, wo automatisiert nach Verbrauch abgerechnet wird, quasi ein Selecta-Automat für Elektrotechnik, Sanitärbedarf, Bewehrungen und mehr.
Die nächste Stufe sowohl bzgl. Lock-In wie auch Prozesskosten-Optimierung kann mit Logistikservices erklommen werden. Darunter haben wir Ausprägungen, wie die Bewirtschaftung der Vorräte, Lager und Magazine vor Ort beim Kunden, ebenso zusammengefasst wie hochgradig individualisierte Versand- und Zustelllogistik-Konzepte bis hin zur Unterstützung von BIM-Prozessen in der Bauwirtschaft.
Bei Plattform-Services unterscheiden wir zwischen der passiven und der aktiven Strategie, die unterschiedliche Auswirkungen auf den Lock-In und Kosten haben kann.
Die aktive Plattformstrategie ist bzgl. der Evolution und des Impacts auf Lock-In und Prozesskosten-Optimierung die interessantere Variante, wenn auch aufwendig, wenn man selbst zur Plattform wird, ob branchen-, themen- oder kompetenzspezifisch.
Vom reinen Produktverkauf wird in Zukunft kaum noch ein Unternehmen leben können. Höchste Zeit also, sich Gedanken darüber zu machen, wie man neue Erlösströme erzielen kann und die Kunden näher an sich bindet. Grundlage dazu ist jedoch, dass man als Unternehmen dazu bereit und befähigt ist. Und dazu ist eine Transformation nach innen dringend nötig mit griffigem Change-Management, das vor Kultur, Führungs- und Organisations-Modellen keinen Halt macht. Ansonsten könnte es schwierig werden für viele Hersteller, Marken und Händler.
Connect – Digital Commerce Conference
Am 15. September 2020 findet die Connect – Digital Commerce Conference in Zürich statt, die führende Digital-Business-Konferenz für Händler, Hersteller und Brands.
Auch dieses Jahr lockt das Programm mit hochkarätigen Referierenden und Panel-Teilnehmenden, das den Erfahrungsaustausch und Knowhow-Transfer aus erster Hand ermöglicht. Tickets sind hier verfügbar:
www.dcomzh.ch/tickets
Der Autor
Thomas Lang ist Geschäftsführer und Inhaber der
Carpathia AG, der unabhängigen und neutralen Unternehmensberatung für Digital-Business und E-Commerce. Er ist Autor von zahlreichen Fachartikeln und -studien, Dozent für Online-Vertriebsmodelle an verschiedenen Hochschulen sowie gefragter Referent an internationalen Konferenzen zum Thema E-Commerce und Digitale Transformation im Handel.
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