Silicon Personas: Wie virtuelle Kundschaft die Marketing-Realität in der Schweiz verändert

01.09.2025
3 Min.

Die Datenberge wachsen, doch das Kundenverständnis schrumpft. Klassische Personas sind zu starr, qualitative Studien zu langsam. Silicon Personas ändern das Spiel: KI-gestützte, virtuelle Kundengruppen verhalten sich wie echte Menschen, geben Feedback und testen Produkte. Entstanden aus synthetischen Daten, machen sie Kampagnen präziser, schneller und datenschutzkonform – ein Wettbewerbsvorteil, den Schweizer Unternehmen jetzt nutzen können.

Symbolbild Copilot

 

Synthetische Daten sind künstlich generierte Datensätze, die die statistischen Muster realer Kundinnen und Kunden widerspiegeln, aber keine Rückschlüsse auf einzelne Personen zulassen. Laut dem MIT Sloan‑Management‑Review wird ein Grossteil der Daten in KI‑Projekten künftig künstlich erzeugt. Diese Daten bilden die Grundlage für Silicon Personas.

Anders als klassische, statische Personas sind sie interaktive digitale Avatare, die das Verhalten einer Zielgruppe simulieren und damit für Dialoge zur Verfügung stehen. Sie werden aus internen Daten (z. B. Interviews, CRM‑Informationen) und externen Quellen trainiert. Eine wissenschaftliche Studie von Hewitt et al. (2024) hat gezeigt, dass KI-Modelle menschliche Reaktionen in komplexen sozialen Szenarien präziser prognostizieren können als menschliche Experten. Für Unternehmen eröffnet dies die Möglichkeit, die Resonanz auf neue Tarife, Services, Produkte oder Marketingkampagnen mit präziserer Genauigkeit zu simulieren, als dies bisher möglich war.

Die Forschung geht noch weiter: Wissenschaftlerinnen der Brigham Young University konditionierten GPT‑3 mit soziodemografischen Informationen aus Wahlumfragen und zeigten, dass die resultierenden Silicon Personas die tatsächlichen Wahlergebnisse erstaunlich gut vorhersagen konnten. Solche Ergebnisse belegen, dass Sprachmodelle fein abgestimmte Einstellungen und Vorlieben „lernen“ und damit als Stellvertretungen für menschliche Zielgruppen dienen können. Durch die Kombination vieler Datenquellen und intelligenter Prompts entstehen Avatare, die nicht nur beschreiben, sondern aktiv mit Marketing‑Teams interagieren – ein Quantensprung gegenüber statischen PDFs.

Datenschutz, First‑Party‑Daten und Wachstumschancen

Die Schweiz steht seit der Einführung des revidierten Datenschutzgesetzes (revDSG) vor besonderen Anforderungen. Das Gesetz ist weniger formalistisch als die europäische DSGVO, sieht aber persönliche Haftung mit Geldbussen von bis zu 250'000 CHF vor. Synthetische Daten sind hier besonders attraktiv, weil sie Datenschutzrisiken mindern: Da keine realen Personen abgebildet werden, unterliegen sie nicht denselben gesetzlichen Einschränkungen. Gleichzeitig zwingt das Ende der Third‑Party‑Cookies Unternehmen dazu, verstärkt mit First‑ und Zero‑Party‑Daten zu arbeiten und diese mit synthetischen Daten anzureichern.

Besonders datenintensive Branchen wie Versicherungen, Handel, Telekommunikation oder das Gesundheitswesen können von Silicon Personas profitieren. Sie ermöglichen es, Produktideen und Kommunikationskonzepte zu testen, ohne dass reale Kundendaten verarbeitet werden müssen. Synthetische Kundschaft wird heute schon für Wertversprechen, Persona‑Entwicklung, Kampagnentests, Net Promoter Score‑Prognosen und Schulungen eingesetzt. In diesen Feldern haben Schweizer Unternehmen die Chance, regulatorische Compliance mit innovativen Marketingansätzen zu verbinden.

So entstehen Silicon Personas: Fünf Schritte

Ein Silicon‑Persona‑Projekt ist wesentlich mehr als ein einzelner Prompt für ein Sprachmodell. Die Praxis zeigt, dass hochwertige Avatare in einem strukturierten Prozess entstehen:

  1. Datenbasis aufbauen. Im ersten Schritt werden Interviews, Umfragen, CRM‑Daten und Support‑Logs gesammelt und in anonymisierter Form aufbereitet. Muster und Bedürfnisse werden identifiziert. Ein klassischer „Garbage in, garbage out“-Effekt muss vermieden werden.
  2. Psychologische Tiefe erzeugen. Grosse Sprachmodelle (LLMs) übernehmen die semantische Analyse. Sie werden mit spezifischen Rollen (z. B. Verhaltensökonomin, Demograf, Psychologin) versehen, um Denkweisen, emotionale Trigger und Werte der Zielgruppe herauszuarbeiten. Psychografische Modelle wie OCEAN können eingebunden werden.
  3. Kontext kombinieren. Die Einsichten aus verschiedenen Modellen werden zu einem „Super‑Prompt“ zusammengeführt. Dieser definiert den Avatar so detailliert, dass er in einem Dialog konkrete, konsistente Antworten gibt.
  4. Menschliche Validierung. Bevor die Persona genutzt wird, prüfen Expertinnen aus Marketing und Forschung die Ergebnisse und gleichen sie mit externen Studien ab. Dieser „Human‑in‑the‑Loop“ verhindert blinde Flecken und sichert Praxisnähe.
  5. Testen und iterieren. Die Persona wird mit verschiedenen Sprachmodellen ausprobiert und in Szenarien getestet. Feedback aus ersten Dialogen fliesst zurück, um die Genauigkeit weiter zu erhöhen.


Dieser Prozess reduziert die Gefahr von Verzerrungen, die durch unausgewogene Datensätze entstehen können. Gleichzeitig eröffnet er die Möglichkeit, Personas modular zu erweitern und in Systeme wie CRM‑Plattformen zu integrieren.

Use Cases: Produkt‑Tests, Content‑Validierung und Vertriebscoaching

Die echte Stärke von Silicon Personas liegt in ihrer Anwendung. Vier typische Praxisfälle lassen sich unterscheiden:

Produktentwicklung

Produktmanagerinnen können neue Tarife, Pakete oder Services im Dialog mit der relevanten Persona testen, bevor teure Entwicklungszyklen starten. In wenigen Tagen lassen sich Akzeptanz, Hindernisse und entscheidende Produktmerkmale identifizieren. Synthetische Kundschaft liefert Tests deutlich schneller und zu geringeren Kosten. Unternehmen sparen Zeit, vermeiden Fehlinvestitionen und können ihre Angebote zielgenau auf die Bedürfnisse der Zielgruppe ausrichten.

Content‑Testing und Kampagnen

Marketingteams können verschiedene Botschaften, visuelle Stile und Kanäle simulieren und die Reaktionen der Avatare analysieren. Eine Untersuchung von Forbes stellt fest, dass Marken durch frühe Tests mit synthetischen Personas kreative Risiken reduzieren und Kampagnen schneller optimieren. Das Feedback der Avatare zeigt, welche Claims authentisch wirken und welche potenziell negativ aufgenommen werden. Dadurch steigt die Öffnungs‑ und Conversion‑Rate, und Budgets werden effizienter eingesetzt.

Vertriebsqualifizierung und Kundengespräche

Statt theoretischer Schulungen können Vertriebsmitarbeitende realitätsnahe Gespräche mit Silicon Personas führen. Die Avatare reagieren mit typischem Fachjargon, bringen Einwände vor und spiegeln die Emotionen der Zielgruppe wider. Diese Trainings stärken die Argumentationsfähigkeit, erhöhen die Abschlusswahrscheinlichkeit und ermöglichen es auch jungen Mitarbeitenden, anspruchsvolle Kundensituationen zu üben.

Seltene Zielgruppen

Für Zielgruppen, die schwer erreichbar sind (z. B. viel beschäftigtes Gesundheitspersonal oder bestimmte B2B‑Segmente), bieten Silicon Personas einen einfachen Zugang. Teams können beliebig viele virtuelle Gespräche führen und dabei die Bedürfnisse und Entscheidungsmechanismen dieser Gruppen verstehen. Das deckt verborgene Potenziale auf und unterstützt eine präzise Positionierung.

Mehrwert und Grenzen

Die Vorteile von Silicon Personas liegen auf der Hand: Sie liefern schnell belastbare Einsichten, reduzieren Kosten, ermöglichen neue Hypothesen und fördern eine feingranulare Segmentierung. TechHQ berichtet, dass LLM‑gestützte Personas Nutzertests und Marketinganalysen liefern, für die sonst Stunden oder Tage nötig wären. Gleichzeitig zeigen die Untersuchungen, dass Sprachmodelle trotz eines begrenzten Trainingszeitraums erstaunlich verlässliche Ergebnisse liefern.

Trotzdem gibt es Grenzen. In Experimenten mit „silicon sampling“ erzielten die Avatare längere, analytische Antworten als echte Menschen, aber sie wirkten weniger authentisch. Verzerrungen in den Trainingsdaten können unterrepräsentierte Gruppen falsch darstellen. Deshalb sollten Unternehmen Silicon Personas ergänzend zu klassischen Methoden einsetzen und die Ergebnisse durch echte Kundendaten validieren. Delve AI betont, dass die Qualität der Eingabedaten und eine kontinuierliche Überprüfung entscheidend sind.

Agentic AI: Die nächste Evolutionsstufe

Die meisten Silicon‑Persona‑Anwendungen sind heute reaktiv: Teams stellen Fragen und erhalten Antworten. Der nächste Schritt sind Agentic‑AI‑Systeme, die selbstständig planen, handeln und ganze Marketingprozesse orchestrieren. Solche Agenten bieten eine Kombination aus Autonomie, Planung, Gedächtnis und Integrationsfähigkeiten, die KI von einem reaktiven Werkzeug zu einem proaktiven Co‑Piloten macht. In der Praxis könnte ein Agentic‑System stagnierende Engagement‑Raten erkennen, alternative Ansprachen testen, den Content automatisch anpassen und die Kampagne in Echtzeit steuern. Diese Transformation verspricht neue Umsatzquellen und höhere Agilität. Sie erfordert aber klare Governance, ethische Leitplanken und eine Reorganisation der Abläufe.

Fazit und Empfehlungen

Silicon Personas bieten Schweizer Unternehmen eine einmalige Chance, ihr Kundenverständnis zu vertiefen und zugleich die strengen Datenschutzanforderungen einzuhalten. Sie machen Kundengruppen erlebbar, beschleunigen Tests und helfen, Budgets effizienter einzusetzen. Die Praxis zeigt, dass Marktrecherchen mit Silicon Personas sich im Vergleich zu klassischen Marktrecherchen zu einem Bruchteil der Kosten realisieren lassen. Um das Potenzial auszuschöpfen, sollten Marketingverantwortliche:

  • Kleine Schritte gehen. Beginnen Sie mit Pilotprojekten in klar umrissenen Bereichen, um Erfahrungen zu sammeln.

  • Datenqualität sichern. Investieren Sie in qualitativ hochwertige, diversifizierte Datensätze und nutzen Sie Expert*innen zur Validierung.

  • Silicon Personas in Arbeitsabläufe integrieren. Nur wenn Teams regelmässig mit den Avataren arbeiten, entsteht ein Mehrwert.

  • Ethik und Compliance beachten. Verwenden Sie synthetische Daten, um Datenschutz zu wahren, und setzen Sie klare Regeln gegen Verzerrungen.

  • Agentic‑AI im Blick behalten. Wer heute mit Silicon Personas experimentiert, schafft die Grundlage für autonome Agenten, die morgen den Wettbewerb prägen.


Mit diesen Schritten können Unternehmen die Marketing‑Revolution aktiv gestalten und ein neues Niveau der Kundenzentrierung erreichen.


Der Autor

Yvo Richner ist Senior Managing Consultant AI bei elaboratum (Bildrechte: elaboratum)

 

 

Über elaboratum suisse

elaboratum suisse denkt Digitalberatung neu. Mit konsequentem Blick auf die Menschen hinter allen Entscheidungen führt das 2010 gegründete Unternehmen Digitalprojekte zum Erfolg. Die mehr als 80 Mitarbeitenden von elaboratum helfen Unternehmen, Menschen zu verstehen und Digitalisierung so einzusetzen, dass langfristige und vertrauensvolle Beziehungen entstehen. www.elaboratum.ch