Open Source für Schweizer KMU: Der Weg zu digitaler Souveränität

08.12.2025
5 Min.

Open Source wird oft mit «gratis» gleichgesetzt, doch sein wahrer Wert liegt tiefer. Für Schweizer KMU ist es der Schlüssel zu digitaler Souveränität, Unabhängigkeit und Zukunftsfähigkeit. Vier führende Schweizer IT-Experten diskutieren im #topsoftFachmagazin, warum der offene Weg eine strategische Entscheidung ist und wie er im Geschäftsalltag funktioniert.

Open Source als strategische Entscheidung

In einer Zeit wachsender digitaler Abhängigkeiten ist die Wahl der richtigen Unternehmenssoftware mehr als eine technische Frage – sie ist eine strategische Weichenstellung. Für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) in der Schweiz stellt sich zunehmend die Frage, wie sie ihre Datenhoheit bewahren und flexibel auf die Anforderungen des Marktes reagieren können. Die Entscheidung für Open Source Software (OSS) ist hierbei nicht nur eine Überlegung zu Lizenzkosten, sondern eine bewusste Investition in Unabhängigkeit, Transparenz und langfristige Zukunftsfähigkeit.

Der offene Weg verbindet grosse Freiheiten mit einer ebenso grossen Verantwortung. Die Flexibilität, Systeme passgenau auf eigene Bedürfnisse zuzuschneiden, steht der Notwendigkeit gegenüber, sich um Wartung und Support zu kümmern. Doch die Sorge vor mangelnder Sicherheit ist oft unbegründet: Gerade die Offenheit des Quellcodes und die Kontrolle durch aktive, globale Entwickler-Communities führen häufig zu schnellen Updates und einem höheren Mass an Transparenz und Schutz. Open-Source-Lösungen kommen heute in unterschiedlichsten Bereichen zum Einsatz – von Webservern über ERP-Systeme bis hin zu Collaboration-Tools.

Um die Chancen, Herausforderungen und den strategischen Wert von Open Source für den Schweizer Mittelstand zu beleuchten, haben wir vier führende IT-Anbieter zum Gespräch gebeten. Sie gebem Einblick in die Praxis und beantworten die wichtigsten Fragen.

Unsere Experten sind:

Ihre Perspektiven zeigen, warum die Diskussion über Open Source weit über den Preisvorteil hinausgehen muss.

Vier Perspektiven, ein Ziel

Jenseits der Kosten: Der wahre strategische Wert von Open Source

Die Diskussion bewegt sich schnell über die reine Kostenersparnis hinaus. Fragt man die Experten nach dem wahren strategischen Nutzen, kristallisieren sich schnell die Kernthemen heraus: Unabhängigkeit, Kontrolle und Anpassungsfähigkeit. Tonio Zemp und Michael Eichenberger identifizieren den grössten Vorteil darin, dem gefürchteten «Vendor Lock-in» zu entkommen. Man sei nicht länger der Willkür von Anbietern ausgesetzt, die unerwartet Preise erhöhen oder, wie Zemp anmerkt, «plötzlich mit unseren Daten ihre KIs trainieren» wollen.

Lars Müller baut auf diesem Konzept der Unabhängigkeit auf und übersetzt es in einen greifbaren Wert:

«Es ermöglicht sowohl die volle Kontrolle über die Daten als auch der Prozesse und Codes.» – Lars Müller, CEO libracore AG

Nick Weisser betont dazu, dass diese Kontrolle direkte praktische Auswirkungen hat, etwa die Möglichkeit, alle Daten sicher in der Schweiz zu hosten. Aufbauend darauf entfaltet sich die enorme Flexibilität von OSS. Weil die Systeme auf offenen Standards basieren, lassen sie sich nahtlos erweitern und integrieren, um, so Müller, eine «perfekt integrierte Prozesslandschaft» ohne Datensilos zu schaffen.

Michael Eichenberger erweitert diese Perspektive um den Aspekt der Innovation: Offene Systeme profitieren von einer «aktiven Community», die bei Fragen helfe und für «schnellere Innovation» sorge.

Letztlich, so fasst Tonio Zemp zusammen, münden all diese Vorteile in echter Selbstbestimmung. Diese biete einen nachhaltigen Investitionsschutz und die Freiheit die Software dort zu betreiben, «wo ich es will».

Doch wie können KMU diese Vorteile nutzen, ohne selbst zu Technik-Spezialisten zu werden?

Die Frage des Know-hows: Braucht ein KMU ein eigenes IT-Team?

Die Vorstellung, den Quellcode einer Software selbst verwalten zu müssen, löst bei vielen KMU-Verantwortlichen Unbehagen aus. Doch die Expertenrunde gibt einstimmig Entwarnung: Für den erfolgreichen Einsatz von Open Source ist kein tiefes internes IT-Fachwissen nötig. Der Fokus liegt stattdessen auf der Wahl des richtigen Partners.

Für den Endanwender ist die Bedienung nicht von proprietärer Software zu unterscheiden. In der Regel handle es sich um eine «moderne Browser-basierte Web-Oberfläche, intuitiv bedienbar». Die Komplexität liegt unter der Haube, wo das KMU aber nicht selbst agieren muss. Hier kommt der externe IT-Partner ins Spiel. Michael Eichenberger bringt die Voraussetzung auf den Punkt: Entscheidend sei, «dass die Geschäftsanforderungen klar formuliert sind und ein kompetenter Partner die technische Umsetzung übernimmt». Tonio Zemp stimmt zu und unterstreicht, dass die Lizenzart irrelevant sei. Ein guter Partner müsse ein KMU «dort abholen, wo ich mit meinem Know-how stehe».

Zudem machen moderne Betriebsmodelle den Einstieg leicht. Nick Weisser zieht einen direkten Vergleich zur bekannten E-Commerce-Plattform Shopify und erklärt, dass Open-Source-Lösungen wie WooCommerce heute in ähnlichen Managed-Varianten verfügbar sind. Dabei werden «Updates, Sicherheit und Betrieb» komplett von einem erfahrenen Dienstleister übernommen. So können KMU die Vorteile von Open Source nutzen, «ohne selbst tief in die Technik einzusteigen». Wenn der Partner aber eine so zentrale Rolle spielt, wie verlässlich sind Support und Updates in der offenen Welt?

Stabilität und Support: Wie verlässlich ist die offene Welt?

Dem Vorurteil, Open Source sei ein instabiles Bastelprojekt ohne professionelle Unterstützung, treten die Experten entschieden entgegen. Solche Lösungen haben sich «längst als stabil und zukunftsfähig etabliert», stellt Michael Eichenberger fest. Tonio Zemp untermauert dies mit einem eindrücklichen Verweis auf die Praxis: «Bei der Internetinfrastruktur, Middleware im Finanzwesen oder in der Telekommunikation wird eine sehr hohe Zuverlässigkeit gefordert – und das sind überwiegend Open-Source-Systeme.»

Die Robustheit des Supports ergibt sich aus einer zweigeteilten Struktur. Einerseits sorgt eine globale Community für kontinuierliche Weiterentwicklung und Sicherheitspatches. Andererseits übernimmt ein lokaler Partner die Verantwortung für den zuverlässigen Betrieb und die Stabilität beim Kunden. Lars Müller illustriert dies am Beispiel des «lokalen Fork libracore business Software / ERPNextSwiss», den sein Unternehmen direkt betreut, um kritische Updates jederzeit schnell einspielen zu können. Bei Aktualisierungen wird ein pragmatisches Vorgehen empfohlen. Während einfache Updates automatisiert werden können, rät Nick Weisser bei komplexen Integrationen zu einer «manuellen Prüfung», um Konflikte zu vermeiden.

Die grösste Sicherheit, so Zemp, bietet jedoch der offene Quellcode selbst: Selbst wenn eine Community die Entwicklung eines Produkts einstellen sollte, ermöglicht der Code es einem Dienstleister, «die Software weiterhin sicher zu betreiben» – eine Garantie, die bei proprietärer Software undenkbar ist. All diese Aspekte – die Kontrolle über den Code, die Wahl des Partners und die Stabilität des Betriebs – laufen auf ein übergeordnetes Ziel hinaus: die digitale Souveränität.

Das höchste Gut: Digitale Souveränität als Wettbewerbsvorteil

In der digitalisierten Wirtschaft ist die Kontrolle über die eigenen Daten und Prozesse kein Luxus, sondern ein entscheidender Faktor für die unternehmerische Handlungsfreiheit. Die Experten sind sich einig, dass Open Source das wirksamste Instrument für KMU ist, um ihre digitale Souveränität zu sichern und zu stärken.

Die Vorteile liegen auf der Hand: Unabhängigkeit von Herstellern, Transparenz über die Funktionsweise der Software und die freie Wahl des Serverstandorts. Tonio Zemp fasst die Essenz der Souveränität zusammen:

«Ich erhalte als KMU die alleinige Hoheit über meine Daten, Prozesse und Werkzeuge.» – Tonio Zemp, Lead Production Liip AG

Diese Souveränität schützt davor, dass ein Anbieter unerwartet Preise erhöht, den Dienst einstellt oder Kundendaten für eigene Zwecke nutzt. Sie ermöglicht es einem KMU, «strategische Entscheidungen eigenständig» zu treffen, wie Michael Eichenberger betont. Lars Müller fügt hinzu, dass die Transparenz von OSS die Möglichkeit bietet, «hinter die Kulissen zu schauen», was insbesondere für Power User «ganz neue Möglichkeiten» eröffnet.

Doch Souveränität bedeutet mehr als nur Schutz und Kontrolle. Tonio Zemp hebt einen proaktiven Aspekt hervor, der oft übersehen wird: «Ich kann mich sogar in der jeweiligen Community engagieren und so direkten Einfluss auf die Zukunft der Software nehmen.» Digitale Souveränität wandelt sich damit von passivem Besitz zu aktiver Mitgestaltung. Am Ende steht, wie Nick Weisser es formuliert, die Gewissheit von «langfristiger Sicherheit und echter Handlungsfreiheit».

Fazit: Ein Weg zu Freiheit mit Verantwortung

Das Gespräch mit den vier Schweizer Experten zeigt eindrücklich: Open Source ist für KMU kein Allheilmittel, aber ein kraftvolles strategisches Werkzeug. Der grösste Wert liegt nicht in der kurzfristigen Einsparung von Lizenzkosten, sondern in der langfristigen Erlangung von digitaler Souveränität, Flexibilität und unternehmerischer Unabhängigkeit.

Die zentrale Erkenntnis ist, dass der Erfolg einer Open-Source-Strategie nicht von der Grösse der internen IT-Abteilung abhängt. Vielmehr steht und fällt er mit der sorgfältigen Auswahl eines kompetenten und vertrauenswürdigen Partners. Dieser agiert als Übersetzer zwischen den Geschäftsanforderungen des KMU und den technischen Möglichkeiten der Software, übernimmt den Betrieb und sichert die Stabilität.

In einer Welt, die zunehmend von wenigen grossen Technologiekonzernen dominiert wird, bietet Open Source einen nachhaltigen und selbstbestimmten Weg. Er ermöglicht es Schweizer KMU, ihre digitale Zukunft aktiv zu gestalten, anstatt sie von den Geschäftsmodellen anderer diktieren zu lassen. Es ist ein Weg, der Verantwortung erfordert, aber im Gegenzug das höchste Gut verspricht: echte unternehmerische Freiheit.