Die Resultate der zweiten grossen Studie zur Automatisierung im Schweizer E-Commerce sind erschienen. Es zeigt sich, dass auch hier die KI sehr viel verändern dürfte. Wir haben uns mit dem Co-Autor und Initiant der Studie Reto Baumgartner unterhalten.
Reto Baumgartner ist Co-Autor der Schweizer Studie zur E-Commerce-Automation sowie Teilhaber und Key Account Manager der MySign AG
Reto Baumgartner, wieso braucht es diese Studie? Was hat Sie bewogen, sie durchzuführen?
Es wird sehr viel über Marketing Automation geschrieben und geforscht. Übertragen auf E-Commerce ist Marketing Automation aber nur ein kleiner Bereich, der sich mit der Automatisierung von Marketingaufgaben befasst. Doch in der Automatisierung des E-Commerce, wo es auch um Datendurchgängigkeit, um Prozesse, um Customer Experience, um IT-Performance und sogar um die Organisation geht, liegt so viel mehr Potenzial für ein Unternehmen, wettbewerbsfähiger zu werden. Und dennoch hat sich die Wissenschaft bisher noch kaum der Automation im E-Commerce beschäftigt. Dem wollten wir Abhilfe schaffen und haben darum die Studie zusammen mit der FHNW ins Leben gerufen.
Die Studie wurde dieses Jahr nun zum zweiten Mal durchgeführt. Gibt es signifikante Unterschiede zur ersten Durchführung? Was hat sich verändert? Und was hat Sie dabei besonders überrascht?
Als erstes konnten wir mit über 400 Unternehmen deutlich mehr Teilnehmer rekrutieren. Vor einem Jahr war das Thema noch neu und wir mussten Unternehmen überzeugen, mitzumachen. Dieses Jahr konnten wir auf die Studie vom letzten Jahr hinweisen und genossen dadurch mehr Vertrauen sowie einen höheren Bekanntheitsgrad. Die Daten sind ausserdem statistisch relevanter. Überrascht hat sicher, dass im Bereich KI und E-Commerce gegenüber dem Vorjahr noch keine nennenswerte Entwicklung stattgefunden hat, was die Maturität angeht.
Die Studie zeigt, dass der Bereich «Customer Experience» mit einer Maturität von 33% das grösste Potenzial hat. Welche konkreten Massnahmen könnten Unternehmen ergreifen, um in diesem Bereich voranzukommen?
An sich ist es ganz trivial: Unternehmen müssen endlich damit beginnen, ihre Kunden, also die Anwender ihrer E-Commerce Lösungen, von Anfang an in den Konzeptionsprozess miteinzubeziehen. Nach wie vor denken die meisten Unternehmen, sie wissen, was die Bedürfnisse und Anforderungen ihrer Kunden sind. Das mag auch zu 60 bis 70% stimmen. Aber es gibt inzwischen genügend Beispiele dafür, dass sich die Customer Experience deutlich verbessern lässt, wenn Kunden um ihre Meinung gefragt werden, wenn man Kunden testen lässt oder sie einfach bei ihrem Verhalten beobachtet. Die Methoden dafür sind vorhanden, aber sie werden nicht genutzt. Weil man Angst davor hat, dass es die Konzeptionsphase verlängert und verteuert. Dabei ist erwiesen, dass sich dies mehr als lohnt und die Kosten später viel höher sind, wenn man eine fertige Lösung anpassen muss.
Künstliche Intelligenz wird in der Studie als entscheidender Faktor für die Weiterentwicklung der E-Commerce Automation genannt. Die Vorteile aus Sicht der Anbieter lassen sich erahnen. Nur, was bringt diese Automation den Anwendern?
Ein besseres Kundenerlebnis/Convenience: Chatbots, Anreicherung von Daten, personalisierte Angebote etc.
Welche wesentlichen Herausforderungen sehen Sie bei der Implementierung von E-Commerce Automation in der Schweiz? Erfolgs- und Misserfolgsfaktoren?
Richtig priorisieren! Ressourcen sind begrenzt und kein Unternehmen (ausser vielleicht Amazon, Zalando und Co) kann die Automatisierung auf einen Schlag so umfassend angehen, wie wir sie in der Studie beleuchten. Darum ist es entscheidend, dass man VOR der Verteilung des Budgets genau analysiert, wo das Unternehmen heute steht und wo es noch das grösste Potenzial hat, sich zu verbessern, also den grössten Nutzen daraus zu ziehen. Ist es in der Datendurchgängigkeit, also der Anbindung von Umsystemen, ist es in der Prozessabwicklung, in der Customer Experience usw. Und da hilft das von uns mit der FHNW entwickelte Canvas.
Sie erwähnen den zunehmenden Einsatz von Technologien wie Voice- und Social-Commerce. Wie sehen Sie deren Einfluss auf die zukünftige Entwicklung des E-Commerce?
Heute findet das Shopping-Erlebnis zu einem grossen Teil immer noch auf einem separaten Onlineshop statt. Auf Social Media sieht man irgendein Angebot klickt darauf und landet auf einem Shop. Das Einkaufserlebnis ist also nicht integriert. Und das Interface ist mehrheitlich die Tastatur, die Maus oder der Touchscreen.
In Zukunft werden wir viel stärker über Voice, über natürliche Sprache mit dem Computer interagieren und auch so shoppen. KI wird hier ein massiver Beschleuniger sein und das ganz normale Sprechen mit dem Computer ermöglichen. Produkte werden auch immer mehr direkt in unsere täglichen Unterhaltungs- und Kommunikationskanäle integriert und auch direkt dort bestellt werden können – ohne Umweg über einen Shop. Shoppen direkt auf Tiktok oder WhatsApp, Einkaufen im Metaverse usw. Aber auch offline wird das Kaufen von Produkten noch viel intuitiver und in unseren Alltag integriert. Stichwort Invisible Payment. Ich fahre an die Tankstelle oder den Elektro Charger, fülle meinen Tank bzw. meine Batterie und fahre ab. Ohne in einen Shop hineingehen zu müssen, um zu zahlen.
Welche Beispiele aus der Praxis haben Sie in der Studie besonders beeindruckt und warum?
Wir haben für die Studie auch eine Reihe von Interviews mit Unternehmen bzw. E-Commerce-Verantwortlichen in diesen Unternehmen durchgeführt. Es ging uns darum, direkt aus der Praxis zu erfahren, wie die Automatisierung anhand unserer sechs entwickelten Dimensionen konkret umgesetzt wird. Diese Interviews haben wir in unserem Report als Fallstudien abgebildet. Es sind beeindruckende Porträts von erfolgreichen Schweizer Onlineshops.
Wie sehen Sie die Zukunft der E-Commerce Automation in den nächsten fünf Jahren? Welche Entwicklungen erwarten Sie?
Weitere Automatisierung, beschleunigt durch KI, den Kostendruck und die Anforderungen der Kundinnen und Kunden.
E-Commerce wird dadurch viel intuitiver, unserem natürlichen Verhalten folgend integrierter und dadurch mehr in den Hintergrund treten. Die Zeit von Warenkörbe füllen, einen Check-out durchlaufen und Zahlungsangaben zu erfassen wird der Vergangenheit angehören. Wir werden Produkte viel mehr beiläufig «on the way» kaufen oder aber ganz an die Maschine delegieren.
Welche Empfehlungen würden Sie Unternehmen geben, die gerade erst anfangen, sich über Automatisierung Gedanken zu machen?
Analysieren, wo das Unternehmen steht, also ein sogenannter Self-Check und dann prüfen, wo das grösste Potenzial ist, um sich zu verbessern. Erst wenn das klar ist, das Budget verteilen.
Wer soll sich überhaupt diese Gedanken machen? Gilt das für die viele kleinen Händler, oder ist das vor allem ein Thema für Grosse, Pure Player?
Automatisieren ist bei jeder Grösse sinnvoll. Das Potenzial ist aber ganz unterschiedlich. Bei einem kleinen Händler kann das grösste Potenzial darin bestehen, sein Marketing zu automatisieren, damit er schneller wächst. Oder die Benachrichtigungen zu automatisieren, damit er nicht sieben Tage in der Woche Nachrichten verschicken muss. Oder noch einfacher, seinem E-Commerce Verantwortlichen die volle Entscheidungskompetenz zu übertragen, damit er schneller agieren und Dinge ausprobieren kann. Bei einem grossen Händler kann das grösste Potenzial darin bestehen, dass er dynamische Preise für seine Produkte einführt und diese komplett automatisch generieren lässt, da er dadurch mehr Marge erzielen kann. Oder einen intelligenten KI basierten Chatbot baut, damit er die vielen Supportanfragen automatisiert abhandeln kann.
Fazit: Es kommt bei jedem einzelnen Unternehmen darauf an, wo steht es heute und welche nächsten Automatisierungsschritte haben das grösste Potenzial, die Wettbewerbsfähigkeit zu steigern. Vielen Dank für das Gespräch.
Bericht zur E-Commerce Automation Studie
Der Beitrag erschien im topsoft Fachmagazin 24-2
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