Die Digitale Transformation ist in den Führungsetagen von „Corporate Europe“ angekommen. Vorbei die Zeiten, in denen selbst hochrangige Managementmitarbeiter den digitalen Fortschritt und dessen Auswirkungen auf die Gesellschaft, und damit auch auf die Wirtschaft, negiert haben. In denen die Digitalisierung eine Glaubensfrage war. Jetzt ist zumindest das Bewusstsein da, dass etwas getan werden muss. Was genau, darüber streiten sich Führungsmitarbeitende, die Lehre und Beratergilde. Und so treibt die Digitalisierung bisweilen komische Blüten.
Die meisten Unternehmensleiter gehen die Digitalisierung ihres Geschäfts total unterschiedlich an. Es hat sich (zum Glück) keines der eher dürftigen Modelle durchgesetzt. Das liegt zum einen daran, dass es eben keine etablierten und erfolgreichen Modelle gibt, zum anderen aber auch daran, dass Bewusstsein, Know-how, Risiko- und Investitionsbereitschaft jeweils sehr unterschiedlich ausgeprägt sind. Und trotzdem gibt es bei den allgemeinen Verhaltensmustern auffällige Gemeinsamkeiten. Ich klassifiziere daher drei unterschiedliche Typen von digital interessierten und engagierten Führungsleuten:
(1) Die Alibi-Digitalisierer
Diese Gruppe von Führungsleuten im digitalen Bereich bringen digitale Initiativen nur deshalb voran, weil sie müssen. Meist von Verwaltungsräten oder Beratern aufoktroyiert, sind diese Initiativen meist aus dem Zusammenhang gerissen und deshalb digitale Insellösungen. Der „Alibi-Digitalisierer“ glaubt denn auch meist überhaupt nicht daran, dass Digitales dem Unternehmen wirklich etwas bringen könnte. Er führt die Initiativen nur deshalb, weil er sich im Unternehmen ein Alibi verschaffen, die Vorgaben erfüllen muss. Oft sind die Vertreter dieser Gruppe in ihren letzten Jahren als Geschäftsleitungsmitglieder und möchten nichts mehr riskieren. Sie stellen dabei sozusagen ihre eigenen Interessen über jene des Unternehmens und realisieren dabei nicht, dass sie mittelfristig dadurch in erhebliche Schwierigkeiten geraten werden.
(2) Die Gut-Gemeint-Digitalisierer
Diese zweite Gruppe ist aus Überzeugung dabei, erfasst aber nicht die volle Tragweite der vorzunehmenden Veränderungen und setzt sich darum auch nicht entsprechend durch. Meist ist zudem auch digitales Know-how nicht ausreichend vorhanden. Die strategische Notwendigkeit zur Veränderung wird aber durchaus erkannt. Die digitalen Initiativen sind oft aufeinander abgestimmt, sind in der Regel solide, erfüllen aber die Kundenanforderungen nicht vollumfänglich und sind daher nur mittelmässig erfolgreich.
(3) Intrapreneurs
Diese dritte Gruppe besteht aus Führungsmitarbeitenden, die sich als Unternehmer im Unternehmen verstehen. Sie richten sich bedingungslos auf die veränderten Kundenbedürfnisse aus und streben umfassende Lösungen und Ansätze an. Sie verstehen Digital nicht als Zusatz, sondern als Basis. Daher implementieren sie auch keine Digitalstrategien (nicht zu verwechseln mit Digitalisierungsstrategien), sondern machen Digital zum integralen Bestandteil ihrer Unternehmensstrategie. Sie versuchen im Unternehmen eine Kultur des Wandels und der Geschwindigkeit zu etablieren. Sie schaffen in kurzer Zeit neue Angebote, testen diese am Markt und lassen sie ohne Umschweife auch wieder sterben, wenn sie nicht erfolgreich sind.
Ich schätze die Verteilung unter den drei Gruppen auf 30/60/10 Prozent, wobei die Gruppe der Alibi-Digitalisierer rasch ab- und jener der Intrapreneurs rasch zunimmt.
Formen externer Unterstützung
Ein Teil der Unternehmen zieht externe Berater für die Digitalisierung hinzu. Im Rückblick auf die letzten 12 Monate bin ich diesbezüglich skeptisch. Zu oft habe ich erlebt, wie der digitale Wandel von der Unternehmensleitung dadurch wegdelegiert anstatt aufgesogen und verinnerlicht wird. Diese Unternehmen machen sich von den Beratern in zunehmendem Masse abhängig, weil sie so ihr Firmenwissen (das nun ja immer „digitaler“ wird) externalisieren.
Die Einstellung eines Chief Digital Officers (CDO) ist ein anderer Weg die Digitalisierung weiter voranzubringen. Wenn auch besser als ein Beratungsmandat zu vergeben, hat auch diese Variante den Nachteil, dass sich die anderen Mitglieder des Managementteams dem Wandlungsprozess zumindest teilweise entziehen können. Ist der Rückstand des Unternehmens sehr gross, und muss in kurzer Zeit viel verändert werden, ist ein CDO sicher eine gute Alternative. CEOs sind allerdings gut beraten den CDOs viel Freiheit und Kompetenz einzuräumen.
Vergessen Sie die Digital Natives
Viele Unternehmen achten daher darauf, dass Führungsleute möglichst „Digital Natives“ sind oder sich mit möglichst vielen Technologien und Trends auskennen. Natürlich kann es nie schaden wenn man über IT-Wissen verfügt. Aber es sollte nicht Grundbedingung für eine Führungsstelle sein. Vielmehr sollten Führungskräfte bewiesen haben, dass sie Wandel erfolgreich meistern können.
„Die Fähigkeit sich und sein unternehmerisches Umfeld den ständig wandelnden Anforderungen der Kunden anpassen und neu gestalten zu können ist die heutige Schlüsselanforderung an erfolgreiche Führungsleute schlechthin.“
Ob diese Führungsperson dann auch noch Instagram und Twitter nutzt, ist zwar vielleicht nett, aber eigentlich recht unerheblich. Der permanente Strom an neuen Technologien und Produkten sorgt dafür, dass solche „Qualifikationen“ noch unwesentlicher werden.
Was allerdings von unschätzbarem Wert bleibt, ist Erfahrung. Wenn Sie glauben, dass 25-Jährige, die „total digital“ funktionieren, grosse Firmen und Abteilungen viel weiter bringen könnten als ältere Semester, täuschen Sie sich fundamental. Solche Vorstellungen und Ideen sind nur deshalb populär, weil sich die heutigen Managementetagen viel zu oft auf das Verwalten und Hegen von Bestehendem konzentrieren, anstatt ihr Geschäft aktiv voranzubringen. Sie sind in der Regel viel zu sehr Mittelmass. Aber es gibt genug erfahrene Führungspersönlichkeiten, die Geschäftsmodelle und Produkte immer wieder neu angepasst und erfunden haben. Und damit erfolgreich waren und sind. Das sind die wirklich interessanten Kandidaten. Setzen Sie also auf Erfahrung und Leute, die bewiesen haben, dass sie auch Geschäfte machen können, wenn grad alles im Umbruch ist.
Beyond Digital Transformation
Das ist darum wichtig, da die digitale Transformation nur der Anfang eines Zeitalters ist, das von permanenten technologischen Veränderungen getrieben ist. In den Labors dieser Welt steht so viel neue Technologie bereit, die unser Leben umfassend verändern wird. Nur ein Bruchteil davon ist „digital“ wie wir „digital“ heute verstehen. Und noch kostet diese Technologie sehr viel Geld. Bald schon wird sie jedoch zu tiefen Kosten verfügbar sein. Diese Effekte haben wir bereits bei der Entwicklung der Computer kennen gelernt. Auch in Sachen Rechenleistung ist ein Ende nicht absehbar: Bis 2020 wird der erste Rechner mit exaFLOPS Kapazität erwartet. Das entspricht in etwa der theoretischen Rechenleistung des menschlichen Gehirns. Diese extremen Verbesserungen haben denn auch immense Auswirkung auf Forschung und Entwicklung von anderen neuen Technologien. Die Herausforderung für Unternehmer ist es, diese Technologien zu erkennen und sie für ihr Geschäft zu nutzen. War dabei „ihr Geschäft“ bisher ein konstanter fest definierter, abgesteckter Bereich, wird es in Zukunft so sein, dass sie eben auch Ihre Modelle und Ihre Geschäftsbereiche immer wieder neu definieren können. Das ist wohl sehr viel schwieriger, aber auch sehr viel interessanter und lukrativer. Erste Ansätze davon sehen wir bereits.
Erste Stufe einer natürlichen Auslese
Viele Unternehmen sehen diese digitale Transformation als Gefahr für ihr Unternehmen und versuchen an ihren Grundsätzen und Konstanten festzuhalten. Bisweilen wird das auch mit Werten verwechselt. Noch vor zwei Jahren versuchte ich jeweils zu überzeugen und zu sensibilisieren. Heute jedoch sehe ich das entspannter; kein Unternehmen kann ewig bestehen und es liegt in unserer Natur, dass wir nur selten viel Dauerhaftes schaffen. Schlussendlich ist Wirtschaft Mittel zum Zweck. So gesehen sind die Unternehmen, die nun die digitale Transformation – diese erste Prüfung im Zeitalter des schnellen Wandels – nicht meistern, der Nährboden für neue Unternehmen und Initiativen. Es gilt nicht, sie zu betrauern – die Schadenfreude jedoch, die gerade in der Digitalwirtschaft teilweise aufgebracht wird, empfinde ich als total fehl am Platz.
Digitale Transformation als Chance
Die Digitale Transformation ist vor allem eines: Eine unglaubliche Chance. Jeder Unternehmer, der dies erkennt und entsprechend seine Einsätze macht, wird davon profitieren. Ich kann nur ermuntern mit Optimismus, Risikobereitschaft und Neugier in neue Gebiete vorzupreschen und neue Wege und Geschäftsmöglichkeiten zu suchen. Die Möglichkeiten sind derzeit schier endlos.
Autor:
Alain Veuve
Managing Director Switzerland des Open Web Solution Providers AOE. Seit 1997 tätig für IT- und Web-Firmen, Start-Ups und Open Source Projekte. Leitende und beratende Funktionen in den Bereichen digitale Transformation und Open Source E-Business bei internationalen Firmen. Im Vorstand der TYPO3 Association und Gründer der Digital Transformation Firma at-traction.
„Beitrag erscheint auch im Rahmen der Blogparade „Industrie 4.0: Chancen, Risiken, Ideen und Umsetzungen – was hat Deutschland zu bieten?“ von Melanie Vogel und Ingenieurversteher“