Digitale Souveränität: Warum die Schweiz in der KI-Ära ihre eigenen Wege gehen muss

01.12.2025
4 Min.

Stell dir vor, deine sensiblen Unternehmensdaten landen auf Servern in den USA, weil du ChatGPT nutzt - und du erfährst erst davon, wenn amerikanische Behörden anklopfen. Genau deshalb investiert die Schweiz jetzt massiv in KI-Souveränität. Mit APERTUS, dem ersten grossen Schweizer Open-Source-Sprachmodell, dem Alps Supercomputer in Lugano und der Swiss Government Cloud hat die Schweiz 2025 die Infrastruktur, um unabhängig zu bleiben. Die Frage ist nur: Nutzen wir diese Chance auch?

 

Symbolbild Copilot

 

Was digitale Souveränität wirklich bedeutet

Digitale Souveränität klingt nach Bürokratendeutsch, ist aber brandaktuell. Der Bundesrat definiert sie über drei Dimensionen: Daten- und Informationssouveränität (wir entscheiden, wo unsere Daten liegen und wer darauf zugreift), operative Autonomie (wir können Systeme selbst betreiben, ohne von Silicon Valley abhängig zu sein) und Jurisdiktion & Governance (Schweizer Recht gilt, nicht der US Cloud Act). Das Bundesamt für Kommunikation (BAKOM) hat diese Definition 2024 präzisiert und dabei klar gemacht: Souveränität heisst nicht Abschottung, sondern strategische Handlungsfähigkeit.

58 % der Schweizer Unternehmen sorgen sich konkret um ihre Abhängigkeit von globalen Cloud-Anbietern - und das zu Recht. Der US Cloud Act erlaubt amerikanischen Behörden den Zugriff auf Daten von US-Firmen, selbst wenn diese physisch auf europäischen Servern liegen. Microsoft, AWS und Google müssen diesem Gesetz folgen, egal wo ihre Rechenzentren stehen. Der EU AI Act verschärft die Lage zusätzlich: KI-Systeme müssen transparent sein. Proprietäre Modelle wie GPT-4 gelten als "Black Boxes" und bergen erhebliche Compliance-Risiken.

APERTUS: Das Schweizer Sprachmodell geht online

Im September 2025 haben ETH Zürich, EPFL und das Swiss National Supercomputing Centre (CSCS) APERTUS veröffentlicht - das erste grosse Schweizer Open-Source-Sprachmodell. APERTUS existiert in zwei Versionen mit 8 Milliarden und 70 Milliarden Parametern. Trainiert wurde es auf über 15 Billionen Tokens in mehr als 1000 Sprachen. 40 % der Trainingsdaten sind nicht-englisch, darunter Schweizerdeutsch und Rätoromanisch. Das ist nicht nur sprachliche Vielfalt - es ist ein Statement.

Der entscheidende Unterschied zu ChatGPT oder Claude: Bei APERTUS sind Architektur, Trainingsdaten, Modellgewichte und Dokumentation vollständig offen zugänglich. Jeder kann nachvollziehen, wie das Modell funktioniert und worauf es trainiert wurde. Das Modell steht unter einer permissiven Open-Source-Lizenz zur Verfügung, für Forschung und kommerzielle Nutzung. Swisscom hostet APERTUS auf ihrer Swiss AI Platform und garantiert damit vollständige Datensouveränität: Daten bleiben in der Schweiz, unterliegen Schweizer Recht.

Alps Supercomputer: Schweizer Rechenpower für KI

Der Alps Supercomputer in Lugano ist einer der zehn leistungsstärksten Rechner weltweit. Diese Maschine hat APERTUS trainiert - und die öffentliche Hand besitzt damit die Infrastruktur, um modernste KI-Modelle souverän zu entwickeln. Alps wurde bereits 2020 mit Blick auf KI-Anforderungen konzipiert und unterstützt neben Machine Learning auch Wettermodellierung und Klimaforschung. Das CSCS betreibt Alps und forscht gemeinsam mit ETH und EPFL an vertrauenswürdiger KI. Die Rechnerkapazität steht für wissenschaftliche Projekte zur Verfügung - ein strategischer Vorteil für die Schweiz.

Swiss Government Cloud: Souveräne Infrastruktur für den Bund

Im September 2024 hat das Parlament CHF 246.9 Millionen für die Swiss Government Cloud bewilligt. Diese souveräne Cloud-Infrastruktur wird hybride Modelle unterstützen: Public Cloud für unkritische Workloads, Private Cloud für sensible Daten. Der Nationalrat forderte explizit, dass Open-Source-Technologien zum Einsatz kommen und digitale Souveränität zentral berücksichtigt wird. Kantone, Städte und Gemeinden können die Infrastruktur nutzen.

Die Swiss Government Cloud ist kein isoliertes Projekt. Sie ergänzt die Strategie Digitale Schweiz 2025, die der Bundesrat mit drei Fokusthemen verabschiedet hat: KI-Regulierung und -Nutzung in der Bundesverwaltung, Stärkung der Cyber- und Informationssicherheit sowie Förderung von Open Source. Die Strategie ist für die Bundesverwaltung verbindlich und dient Kantonen, Gemeinden, Wirtschaft und Wissenschaft als Orientierung.

Warum wir uns für Mistral AI entschieden haben

Die Wahl des richtigen KI-Modells ist keine technische Frage - sie ist strategisch. Nach intensiver Evaluation haben wir uns für Mistral AI entschieden, das französische Unternehmen, das europäische KI-Souveränität verkörpert. Die Gründe sind handfest: Mistral bietet vollständige DSGVO-Konformität, transparente Preismodelle ohne versteckte Kosten und spezialisierte Modelle für verschiedene Anwendungsfälle. Anders als die Megamodelle von OpenAI setzt Mistral auf Effizienz statt Grösse - ein 7B-Modell, das auf spezifische Aufgaben optimiert ist, schlägt oft ein generisches 175B-Modell.

Mistral Large, das Flaggschiff-Modell, konkurriert direkt mit GPT-4, läuft aber auf europäischer Infrastruktur. Mistral Small eignet sich perfekt für klassische NLP-Aufgaben wie Textklassifikation oder Sentiment-Analyse. Codestral ist spezialisiert auf Code-Generierung und versteht über 80 Programmiersprachen. Die API-Integration ist unkompliziert, die Dokumentation exzellent. Dazu kommt: Mistral arbeitet aktiv mit europäischen Unternehmen zusammen und versteht die regulatorischen Anforderungen des EU AI Act. Das ist keine Nebensache - das ist ein Wettbewerbsvorteil.

Open Source als strategischer Vorteil

Die Bundesverwaltung fördert aktiv Open-Source-Software zur Stärkung von Transparenz, Sicherheit und digitaler Souveränität. Open-Source-KI wie APERTUS ermöglicht vollständige Nachvollziehbarkeit - ein entscheidender Vorteil gegenüber proprietären Systemen für EU AI Act-Compliance. Wenn ein Unternehmen wissen muss, warum ein KI-System eine bestimmte Entscheidung getroffen hat, hilft ein offenes Modell enorm. Bei GPT-4 oder Claude kannst du nur raten - bei APERTUS kannst du nachschauen.

Was das für Unternehmen bedeutet

Die Schweiz verfügt mit APERTUS, Alps und der Swiss Government Cloud über eine einzigartige Kombination aus technologischer Expertise, regulatorischer Stabilität und souveräner Infrastruktur. Unternehmen haben konkrete Optionen: APERTUS über Swisscom nutzen, selbst hosten, auf europäische Anbieter wie Mistral AI setzen oder hybride Strategien fahren. Der Erfolg hängt davon ab, ob Bund, Kantone, Wirtschaft und Wissenschaft diese Grundlagen konsequent nutzen und ausbauen.

Digitale Souveränität ist 2025 keine Zukunftsvision mehr - sie ist verfügbar. Die Frage ist, ob wir sie nutzen oder weiterhin unsere sensibelsten Daten nach Übersee schicken. Die Infrastruktur steht. Die Modelle sind da. Jetzt liegt es an uns.

 

 

Der Autor

Roger Basler de Roca ist Coach, Berater und Keynote Speaker. Als Schweizer «Mr. LinkedIn» betreibt er nicht nur einen vielbeachteten Blog, sondern auch mehrere Social-Media-Kanäle. Pro Jahr hält er mehr als 300 Stunden Workshops und Vorträge, er gilt als Spezialist für KI sowie die digitalen Welten und berät Unternehmen in der ganzen Schweiz. www.rogerbasler.ch