Die andere Seite der Digitalisierung - oder: Warum eine analoge Infrastruktur wichtig ist

07.11.2024
5 Min.

Zunehmend wird der analoge Zugang zu Produkten und Dienstleistungen eingeschränkt oder aufgehoben. Damit verringert sich auch der direkte menschliche Kontakt, analoge Strukturen und Prozesse werden abgebaut. Dies ist eine riskante und auch ethisch fragwürdige Entwicklung: Wir benötigen die Aufrechterhaltung analoger und digitaler Strukturen, wenigstens in zentralen Bereichen. Dies kann auch Teil der unternehmerischen Verantwortung sein.

 

Selbstbedienungskassen ersetzen immer häufiger das Personal - aber damit fällt auch der zwischenmenschliche Kontakt weg

 

Es gibt heute eine Alltagssituation, die sich bei einem Bezahlvorgang so darstellt: «Bar oder mit Karte?». Mit einer Banknote in der Hand folgt dann durch die gegenüberliegende Seite der Griff zum Kartenlesegerät, um die bereits voreingestellte digitale Abwicklung auszuschalten, mal genervt, mal erstaunt, mal gleichgültig. Oder es gibt die Option erst gar nicht mehr, bar zu bezahlen. «Sorry, nur mit Karte!». 
 
Die Umstellung auf digitale Prozesse im Alltag scheint unaufhaltsam, sie gilt für immer mehr Bereiche, seien sie öffentlich oder privat. Sie wird meist als alternativlos und unaufhaltsam dargestellt. Und sie wird als Chance begriffen. Ja, Digitalisierungsprozesse können eine solche sein, sie bergen viele Möglichkeiten. Jedoch können sie auch zu Nachteilen führen. 
 
Denn Digitalisierungsprozesse bergen gesellschaftliche Risiken, wie den Ausschluss vom Zugang zu Gütern und Dienstleistungen, seien sie privat oder öffentlich, die Verringerung persönlicher Kontakte und die monetäre Diskriminierung einer analogen Infrastruktur. Klar ist – die Digitalisierung ist eine ökonomische und technische Entwicklung mit machtvoller Wirkung. Investitionen und Entscheidungen in eine Technologie, die auf Forschung und Erfindungen des 20. Jahrhunderts aufbauen, führen heute dazu, dass sich sämtliche Lebensbereiche tiefgreifend verändern. Im Grunde genommen haben wir uns im 21. Jahrhundert dazu entschieden, dass Güter, Dienstleistungen, Kommunikation und Kontakte, die unmittelbar zwischen Menschen, in Läden, in Büros und in Arztpraxen stattfinden, mittelbar und indirekt in digitale Räume und Zugänge verlagert werden. Und dass diese Räume und Zugänge ein internetfähiges Gerät voraussetzen, um den Zugang zu Produkten, Prozessen und menschlichen Kontakten zu erhalten.
 
Diese Entwicklung wird politisch aktiv befördert. Die Strategie des Bundes «Digitale Schweiz», 2023 verabschiedet, formuliert das Ziel, dass Prozesse, wenn möglich, primär digital gestaltet werden: «Die gesamte Bevölkerung der Schweiz soll von einer nachhaltigen und verantwortungsvollen digitalen Transformation profitieren» (digital.swiss/de/). Ob die Entwicklung allerdings wirklich allen zugutekommt, darf in Frage gestellt werden, und was «nachhaltig» und «verantwortungsvoll» bedeutet, muss diskutiert werden. 
 

Digitale Teilhabe und Kompetenz

Häufig wird der Zugang zur Digitalisierung mit der technischen Ausstattung gleichgesetzt, die sich in der Schweiz auf einem sehr hohen Niveau bewegt – so gut wie alle Haushalte besitzen einen Internetanschluss, rund 90% der Haushalte mindestens einen Computer. Diese Ausstattung muss allerdings verstanden und betrieben werden: Neue Software, Kommunikation, der Ersatz von Geräten... Gemäss dem Bundesamt für Statistik beläuft sich dieser Betrag auf 250 CHF im Monat. Gleichzeitig leben 2024 laut Caritas ca. 700’000 Menschen in Armut. Diesen und anderen armutsgefährdeten Menschen fehlen die finanziellen Möglichkeiten, um Geräte und Software anzuschaffen oder zu erneuern. 
 
Für den Zugang zur digitalen Welt sind zudem digitale Kompetenzen notwendig. Diese werden in den Bereichen Informationen und «Data Literacy», Kommunikation und Zusammenarbeit, Problemlösung und der Erstellung digitaler Inhalte sowie Sicherheit und Privatsphäre gesehen. Im Jahr 2023 verfügten gemäss dem Bundesamt für Statistik 39% der Bevölkerung der Schweiz über digitale Kompetenzen, die über die Grundkompetenzen hinausgehen, je nach Altersgruppen unterschiedlich verteilt.
 
Obwohl also viele Menschen bislang nicht über die erforderlichen Digitalkompetenzen verfügen, werden technische Prozesse bereits auf ausschliessliche Digitalität umgestellt, Stellen zur persönlichen Kontaktaufnahme abgebaut. Auch die Kostenseite der Digitalisierung in Bezug auf Ausstattung und Kompetenzerwerb, auch hinsichtlich einer vielsprachigen Digitalbildung, müsste sich ärmere Haushalte leisten können. Wenn grundlegende Dienstleistungen wie die Eröffnung oder Betreuung eines Bankkontos oder die Buchung von Arzt- oder Impfterminen nur noch online verfügbar sind, werden viele Menschen aktiv daran gehindert, ihre Grundbedürfnisse zu erfüllen.
 

Monetäre Diskriminierung

Neben der Benachteiligung durch fehlende Kompetenzen und von ärmeren Haushalten zeigt sich im Alltag eine weitere Entwicklung, die mindestens fragwürdig ist: Die unterschiedliche Preisgestaltung von digitalen und analogen Zugängen zu Produkten, Dienstleistungen, Kommunikation. Bereits bei öffentlichen Dienstleistungen, z.B. bei Behörden, lässt sich beobachten, dass die digitale Dienstleistung kostenfrei oder günstiger ist als die analoge. Wer das Verzollungsformular für ein Paket ins Ausland zu Hause am Computer ausfüllt, bezahlt die eigenen Digitalkosten. Wer vom Formular nichts wusste oder es digital nicht ausfüllen konnte, bezahlt am Schalter fünf Franken. Onlinetickets sind günstiger als am Schalter, von Bankdienstleistungen ganz zu schweigen, wenn sie überhaupt noch analog verfügbar sind. 
 
Persönlich bediente Supermarktkassen werden zugunsten der Selbstbedienungskassen abgebaut. Hier sind zwar die Artikelpreise noch gleich, bezahlt wird jedoch mit der Währung Zeit – längere Schlagen an den wenigen bedienten Kassen sind Alltag. Und eine weitere, noch wenig diskutierte (vermutlich unfreiwillige) Leistung des Analogen kommt zum Tragen: Kundinnen und Kunden der persönlich bedienten Kasse subventionieren mit ihren korrekten Bezahlungen den Diebstahl mit, der täglich an den «Self Checkout Kassen» geschieht. Und dieser muss immer besser bewacht werden, denn Kundinnen und Kunden reagieren zunehmend «not amused», wenn sie des Betrugs verdächtigt werden. Dies ist nur ein Kostenfaktor, der dem digitalen Bereich zu Buche schlägt und die einfache Rechnung, «digital ist billiger» in Frage stellt. Und auch in moralischer und ökonomischer Hinsicht stellen sich viele Fragen. Denn dass nie alle Bereiche eines Unternehmens profitabel wirtschaften und deshalb andere quersubventionieren, dürfte zum unternehmerischen Alltag gehören. Hier stellen sich deshalb Fragen nach der Rechtfertigung der Benachteiligung des Analogen.
 

Abbau persönlicher Kontakte

Man könnte argumentieren, dass es sich um typische Übergangsprozesse handelt, die irgendwann überwunden werden – wie der Erwerb digitaler Kompetenzen, die Regelung finanzieller Möglichkeiten und die Benachteiligung analoger Methoden, da diese Prozesse irgendwann nicht mehr existieren werden.
 
Eine andere, wesentliche Ebene berührt jedoch grundlegende soziale Funktionsweisen. Die Digitalisierung verlagert unsere Kommunikation nach und nach vom analogen Bereich in den digitalen Raum. Und diese Entwicklung wird zunehmend als Problem erkannt: In einer aktuellen Umfrage der SRG geben 48 % der Befragten an, dass sie Social Media mehrmals täglich nutzen, und kritisieren gleichzeitig die Gefahren, wie Falschinformation oder Hasskommunikation. Gleichzeitig wünscht sich eine überwältigende Mehrheit von 65 %, dass persönliche Kontakte wieder anstelle des digitalen Austauschs treten. 
 
Ganze Berufsbilder ändern sich, wenn im medizinischen oder sozialen Bereich Beratung, Fürsorge und Begleitung vom analogen in den digitalen Raum verlagert werden. Die Unmittelbarkeit und Mehrdimensionalität des menschlichen Kontakts fehlen. Minutenlang von künstlicher Intelligenz in irgendwelchen Warteschleifen nach den Anliegen gefragt zu werden, um dann noch einen virtuellen Stimmabdruck zu erfragen – der Bindung der Kundinnen und Kunden an diese Unternehmen ist dies nicht förderlich. 
 
Der Soziologe Hartmut Rosa spricht von der Bedeutung der Resonanz für menschliches (Zusammen)Leben – von zugewandten Beziehungen zwischen Menschen und ihrem Dasein in der Welt. Direkter Kontakt, Blickkontakt, direkter Austausch gehen jedoch in einer Welt des zunehmend Digitalen, in einer «Kultur des gesenkten Blicks» zunehmend verloren. Auch deshalb ist das Recht auf eine analoge Infrastruktur, wie sie nun vielerorts gefordert wird, als gleichberechtigte Ebene zum digitalen Raum zu unterstützen.
 
 

Die Autorin

 
Jeannette Behringer, Dr. rer. pol., Politikwissenschaftlerin und Ethikerin. Sie gründete 2020 das Forum Demokratie & Ethik für politische Bildung. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind Teilhabe und Partizipation, gesellschaftlicher Zusammenhalt, Nachhaltige Entwicklung sowie Corporate Social Responsibility. Sie ist zudem als Senior Researcher an der Universität Zürich tätig. www.demokratie-ethik.org
 
 
Publikation in Zusammenarbeit mit:
 

SWONET – Swiss Women Network
www.swonet.ch

 

 

 

Der Beitrag erschien im topsoft Fachmagazin 24-3

 

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