Der Digitale Zwilling und die Künstliche Intelligenz – eine Symbiose

03.07.2024
5 Min.

Der Digitale Zwilling etabliert sich langsam, aber kontinuierlich in den Unternehmen. Er wurde im Jahr 2018 von Gartner als eine der zehn vielversprechendsten technologischen Trends bezeichnet. Eine Technologie, die aufgrund von «Echtzeitdaten» eines physischen Objektes Entscheidungen trifft und das physische Objekt beeinflusst bzw. steuert. Verantwortlich für die Entscheide sind verschiedene Formen von Künstlicher Intelligenz, die den Kern des Digitalen Zwillings darstellen.

 

Symbolbild von KI erstellt

 

Was eigentlich ist ein Digitaler Zwilling? Der Digitale Zwilling ist eine virtuelle Repräsentanz eines physischen Objektes. Physisches Objekt und virtuelles Abbild sind miteinander vernetzt und exakt synchronisiert, so dass sie sich bidirektional beeinflussen können. Der digitale Zwilling muss dabei nicht alle Eigenschaften des realen Systems besitzen. Er benötigt nur die Eigenschaften, um seine definierte Aufgabe zu erfüllen. 3D-CAD Modelle oder Simulationen sind keine Digitalen Zwillinge. Sie erfüllen die Bedingung einer bidirektionalen Verbindung zwischen realer und virtueller Repräsentanz nicht.

 

Arten von Digitalen Zwillingen

Aktuell unterscheidet man drei verschiedene Arten von Digitalen Zwillingen, den Produktzwilling, den Produktionszwilling und den Performancezwilling. Hier sei angemerkt, dass es in diesem Bereich keine Normbegrifflichkeiten gibt und die Benennung je nach Organisation variieren kann.

Der Digitale Produktzwilling wird vorwiegend in der Produktenwicklung eingesetzt, um zum Beispiel ein Produkt virtuell in Betrieb zu nehmen, bevor mit der Fertigung begonnen wird. Der Produktzwilling hilft 3D-/CAD-Modellen, Prüfmerkmale oder deren Produkteigenschaften zu verbessern. Eine Sonderform des Produktzwillings stellt die Verwaltungsschale (Asset Administration Shell AAS) von Industrie 4.0 Komponenten dar. Eine Verwaltungsschale bindet die physischen Assets (Maschinen, Geräte) an die IT-Systeme an und ermöglicht so die Kommunikation zwischen ihnen. Auch der Digitale Produktepass DPP, der von der EU angestrebt wird, stellt eine Form des Produktezwillings dar.

Der Digitale Produktionszwilling wird bei der Planung von Fabriken, Maschinen und Anlagen, Werkzeugen und Prüfprogrammen eingesetzt. Dieser Digitale Zwilling unterstützt, überwacht und optimiert die Produktionsprozesse.

Mit dem Digitalen Performancezwilling können ganze Produktionslinien oder Werke abgebildet werden. Er wird auch als Leistungs- oder Ausführungszwilling bezeichnet.

Seine Aufgabe ist, Produktionskennzahlen und Daten, wie Durchlaufzeiten, Einhalten von Lieferzeiten, Qualitätsmerkmale usw. zu verbessern.

 

Geschichte des Digitalen Zwillings

Die Geschichte des Digitalen Zwillings geht bei einer gesamtheitlichen Betrachtung des Themas auf die 1940er-Jahre zurück. Damals hat Professor Norbert Wiener mit der Entwicklung der Kybernetik (engl. Cybernetics) die Grundlagen des Digitalen Zwillings gelegt und erste Anwendungsmöglichkeiten genannt.

Nach dieser ersten Vorstufe eines Digitalen Zwillings wurde erst im Jahr 2003 durch Grieves ein erstes Modell erarbeitet und vorgestellt. Im Jahr 2010 setzte die NASA erstmalig einen Digitalen Zwilling für die Spieglung einer Raumfahrtmission ein. 2012 wurde der Digitale Zwilling von Seiten der NASA als die Schlüsseltechnologie für zukünftige Projekte identifiziert. Ab diesem Zeitpunkt nahm die Entwicklung des Digitalen Zwillings an Fahrt auf und endete im Jahr 2021 mit der Veröffentlichung erster Normen (ISO 23247) über den Aufbau von Digitalen Zwillingen.

 

Aufbau eines Digitalen Zwillings

Der Aufbau eines Digitalen Zwillings ist zwischenzeitlich in der Norm ISO 23247 sehr gut generisch beschrieben. Neben der Norm gibt es noch weitere Modelle, die den Aufbau eines Digitalen Zwillings beschreiben, wie das 6-Lagen-Modell (Redelinghuyset 2020).

Der Digitale Zwilling besteht aus drei Einheiten: Der Datensammlungs- und Steuerungseinheit, der Zentraleinheit (Core Domain) und der Einheit für die Nutzerinteraktion. Über letztere kann der Mensch die Entscheide und Resultate des Digitalen Zwillings verifizieren und weitere Systeme einbinden.

 

Künstliche Intelligenz, der Kern des Digitalen Zwillings

Digitale Zwillinge fällen aufgrund von Echtzeitdaten von physischen Objekten Entscheide. Verarbeitet werden die Daten in der Core Domain mittels Algorithmen. Ein Algorithmus ist eine eindeutige Handlungsvorschrift zur Lösung eines Problems oder einer Klasse von Problemen. Die Frage stellt sich hier, ist ein Algorithmus einer Künstlichen Intelligenz gleichzusetzen? Ein Algorithmus ist nicht per se eine Künstliche Intelligenz, aber er ist ein wesentlicher Bestandteil (Baustein) davon. Künstliche Intelligenz wird in die Kategorien «schwache» KI (Narrow AI) und «starke» KI (General AI) eingeteilt. Eine schwache KI wird zur Lösung von konkreten Anwendungsproblemen, also zur Unterstützung des menschlichen Denkens eingesetzt. Eine starke KI hingegen ist die Form der Künstlichen Intelligenz, die die gleichen intellektuellen Fähigkeiten wie der Mensch hat oder ihn darin sogar übertrifft. In der Regel kommt bei Digitalen Zwillingen die schwache KI zum Einsatz.

Interessant ist der Einsatz von KI in Digitalen Zwillingen, wenn es um die Verarbeitung von grösseren Datenmengen geht, mit denen Entscheide getroffen werden. Hier kommt Machine Learning oder Deep Learning zum Zuge. Machine Learning ist ein Teilbereich der KI. Es bezieht sich auf Systeme oder Algorithmen, die die Fähigkeit haben, aus den ihnen vorliegenden Daten zu lernen und ihre Leistung zu verbessern, ohne dass sie explizit programmiert wurden, bestimmte Aufgaben auszuführen. So können Digitale Zwillinge auf Grundlage von Daten Vorhersagen und Entscheide treffen.

Ein Unterbereich des Machine Learning ist das Deep Learning. Deep Learning stützt sich auf Algorithmen, die auf künstlichen neuronalen Netzen basieren, insbesondere auf sogenannten tiefen neuronalen Netzen. Was Deep Learning besonders macht, ist die Fähigkeit, Muster in den Daten auf verschiedenen Abstraktionsebenen zu lernen. Dies hat es sehr effektiv gemacht für Aufgaben, die eine grosse Menge an Eingangsdaten erfordern, wie Bild- und Spracherkennung.

 

Hierarchie der Künstlichen Intelligenz. Quelle: Markus C. Krack

 

Einsatzgebiete von Künstlicher Intelligenz in Digitalen Zwillingen

In der Regel werden Digitale Zwillinge für die Lösung eines Problems eingesetzt. Klassische Aufgabengebiete in produzierenden Betrieben sind die Optimierung der Produktqualität, frühzeitige Fehlererkennung, dynamische Produktionsplanung und Steuerung wie auch Predictive Maintenance. Aber auch in der Logistik können Unternehmen mittels Digitalen Zwillingen ihre Lieferketten optimieren, indem sie zum Beispiel den Warenfluss genauer prognostizieren. Ebenfalls spielt der Digitale Zwilling im Bereich des Gebäudemanagements eine wichtige Rolle.

 

Ausblick

Der Einsatz des Digitalen Zwillings steht noch am Anfang und wird noch nicht von einer breiten Masse von Unternehmen genutzt. Grund hierfür dürfte unter anderem das fehlende Wissen über die Einsatzmöglichkeiten und Nutzen eines solchen sein. Voraussetzung für den Aufbau eines Digitalen Zwillings ist ein breites Fachwissen im Bereich der Kybernetik, der Künstlichen Intelligenz sowie der Informatik.

Einen Baukasten für die Erstellung eines Digitalen Zwillings gibt es bis heute nicht. Der Markt bietet aber zunehmend einzelne Bausteine, vor allem im Bereich der KI für die Erstellung von Zwillingen an. Mit der fortschreitenden Entwicklung der Kerntechnologie «Künstliche Intelligenz» eröffnen sich viele neue Anwendungsgebiete für Unternehmen.

 

Der Autor

Prof. Markus C. Krack ist am Institut für Business Engineering der Fachhochschule Nordwestschweiz für das Forschungsgebiet Smart Factory verantwortlich. Ein Schwerpunkt bildet hierbei der Digitale Zwilling. Daneben leitet er im Studiengang Wirtschaftsingenieurwesen die Vertiefungsrichtung «Supply Chain und Production Management» und ist Studiengangleiter der Weiterbildung «CAS Digital Industry»

Der Beitrag erschien im topsoft Fachmagazin 24-2

 

 

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