In vielen Bereichen wird Automation als Allheilmittel angesehen. Doch nicht alles lässt sich automatisieren. Gerade in der Buchhaltung gibt es Bereiche, wo das schlicht nicht oder nur schwer möglich ist. Welche das sind, erklärt Lukas Wissner in seinem Fachartikel.
Symbolbild von KI erstellt
I Prozesslandschaft
Buchhalterische Prozesse müssen im Einklang mit einem gewünschten regelkonformen Zustand ablaufen, welcher vom Gesetzgeber (OR) und anerkannten Standards (Swiss GAAP FER, IFRS) vorgegeben wird. Die Automatisierung der Buchführung ist somit eine klassische Fallstudie im Bereich des «RegTech», wobei «Tech» die Variable und «Reg» die Konstante bildet.
Denn Technologien kommen und gehen – Rechtsgrundsätze bleiben («Technologieneutralität»).(1) Dieser Grundsatz ist besonders gut im Schweizer Rechnungslegungsrecht zu beobachten: Die wichtigsten Aspekte seiner Automatisierbarkeit lassen sich nämlich bereits aus der ersten Fassung des Obligationenrechts von 1881 ableiten. Dort gab es lediglich drei Artikel zur Buchhaltung (heute sind es 42):
Art. 877. Wer verpflichtet ist, sich in das Handelsregister eintragen zu laßen, ist auch zu ordnungsgemäßer Führung von Geschäftsbüchern verhalten, aus welchen die Vermögenslage des Geschäftsinhabers und die einzelnen mit dem Geschäftsbetriebe zusammenhängenden Schuld- und Forderungsverhältniße ersehen werden können.
Art. 878. Wer zur Führung von Geschäftsbüchern verpflichtet ist, hat dieselben während zehn Jahren von dem Tage der letzten Eintragung an aufzubewahren. Während derselben Zeitdauer, vom Tage ihres Einganges an berechnet, sind auch die empfangenen Geschäftsbriefe und Telegramme aufzubewahren.
Art. 879. Bei Streitigkeiten über Rechtsverhältniße, welche aus dem Betriebe eines Geschäftes herrühren, können Diejenigen, welche zur Führung von Geschäftsbüchern verpflichtet sind, zur Vorlegung derselben, sowie der empfangenen Geschäftsbriefe und Telegramme angehalten werden.
II Prozessanalyse
Datenerfassung («Führung von Geschäftsbüchern»)
Unter der «Führung von Geschäftsbüchern» versteht man prozesstechnisch die fortlaufende, chronologische und lückenlose Erfassung von Geschäftsvorfällen und Sachverhalten anhand von Belegen (i.d.R. Rechnungen). Daraufhin erfolgt eine Abstimmung mit den tatsächlichen über die Bank gebuchten Geldflüssen.
Die Buchführung wird in der Lehre als der «handwerkliche Teil» im übergreifenden Prozess der Erstellung der Jahresrechnung bezeichnet. Damit wird eines deutlich: «Buchführung [kann] nicht leicht gesetzlich geregelt werden».(2)
Und auch die Automatisierung der Buchführung geht nicht so voran, wie es sich die Technikoptimisten wünschen. Denn genau das ist die Besonderheit der Buchführung – verstanden als «RegTech»: Sie ist nicht nur schwer zu regulieren, sondern als anerkanntes Handwerk (zumal mit eidgenössischem Fachausweis) auch nicht leicht zu automatisieren. Dies soll in den folgenden Gegenüberstellungen veranschaulicht werden:
Automatisierbar: Mit dem europäischen EBICS-Protokoll («Electronic Banking Internet Communication Standard») lassen sich in der Schweiz seit 2016 sämtliche Bankdaten als XML-Datei im Buchhaltungssystem empfangen. Allerdings muss EBICS zuerst bei der Hausbank beantragt und aktiviert werden. Tatsächlich stellt EBICS danach das gesamte bankinterne E-Banking inklusive Zahlungsinitiierung (pain.001) in einem beliebigen konsumierenden System zur Verfügung. In der Schweiz wird EBICS von etwa 42 der 236 Finanzinstitute in verschiedenen Versionen angeboten.
Nicht automatisierbar: Multibanking besitzt zwar das Potenzial, den einfachen Import der Bankbuchungen in das Buchhaltungssystem zu automatisieren (Ist-Methode), sowie die nachträgliche Abstimmung der Bankbuchungen mit den Offenposten der Kreditoren- und Debitorenbuchungen zu bewerkstelligen (Soll-Methode), etwa durch automatische Zuordnungsvorschläge. Bei der kleinsten Abweichung der Vergleichswerte (z.B. des tatsächlich erhaltenen Betrags mit der offenen Rechnung) ist der im Hintergrund laufende XML-Parser jedoch bereits nicht mehr in der Lage, die beiden Beträge (bzw. Rechnungssteller) zuverlässig einander zuzuordnen. Eine solche Abweichung könnte durch einen trivialen Tippfehler oder eine Teilzahlung entstehen.
Automatisierbar: Seit 2021 bieten alle drei «Hyperscaler» (AWS, GCP, Azure) die automatische Erkennung von Rechnungsdaten als Standardschnittstellen an. Unter dem technischen Namen «Intelligent Document Processing» (IDP) werden – angeführt von AWS – Kreditorennamen, Adressen, Rechnungsbeträge, Referenznummern (insgesamt mehr als 30 Datensätze) mit sehr hohen Zuverlässigkeitswerten (über 80%) durch optische Zeichenerkennung (OCR) erfasst und zur Verarbeitung z. B. an ein Buchhaltungssystem übergeben.
Nicht automatisierbar: Die Verifizierung der ausgelesenen Rechnungsdaten und eventuellen Kontierungsvorschlägen erfolgt dennoch von Hand. Die tatsächliche Effizienzsteigerung im Tagesgeschäft ist daher erfahrungsgemäss minimal. In allen Szenarien muss nämlich die ursprüngliche Eingangsrechnung in einem separaten Fenster zur Verfügung stehen. Ob die Daten nun manuell in die Buchungsmaske eingegeben oder lediglich validiert werden, das Ergebnis ist in etwa das gleiche.
Erschwerend kommt hinzu, dass die automatische Schnittstelle oft mehr Daten liefert, als benötigt. Es geht wertvolle Zeit verloren, um unnötige Rechnungsdaten zu validieren oder abzulehnen. Grundsätzlich ist Datenerfassung kein Selbstzweck: insb. bei Junior-Sachbearbeitern verursachen viele Eingabefelder für Randphänomene Verwirrung und Ineffizienz.
Nicht automatisierbar: Es gilt zu beachten, dass hinter dem wundersam technisch klingenden Begriff «Datenerfassung» natürlich wieder der Mensch (und zwar nicht der Buchhalter) in Erscheinung tritt, denn er ist es ja, der die Daten durch seine Geschäftsaktivität generiert hat und nun erfasst. Begriffe wie «Hochladen», «Einscannen», «Einlesen», «Importieren» sind wenig aussagekräftig, wenn es darum geht, zu entscheiden, welche Informationen überhaupt buchungswürdig sind und somit Urkundencharakter haben. Während die Erfassungsmethode automatisierbar ist, liegt der eigentliche Buchungsentscheid wieder beim Menschen, genau wie der darauffolgende Archivierungsentscheid (Stichwort DMS). Der Mensch ist also aus der Buchhaltung gar nicht wegzudenken: Nur er kann sie verständlich machen. Dadurch entsteht eine weitere Prozessschnittstelle: Übergabe und Interpretation der erfassten Daten.
Nicht automatisierbar: Im KMU-Szenario ist die Person, welche die Daten erfasst oft nicht diejenige, die die Buchung wirklich vornimmt. Dadurch gestaltet sich die Übergabe von Belegen und Kontoauszügen vom operativen Geschäft zum Buchhalter/Treuhänder mühsam (mangels EBICS-Anbindung und einer Vielzahl von Primärsystemen). Auch in mittleren und grossen Unternehmen mit zentralen ERP-Systemen muss sich der Buchhalter das Fachwissen zu den Geschäftsvorfällen weiterhin aus den Abteilungen holen.
Kontierung («ordnungsgemäss»)
In der Buchhaltungspraxis entfallen nur etwa 10 bis 20% des gesamten Arbeitsaufwands auf die Datenerfassung. Ein weit grösserer Teil entfällt auf die Analyse der Belege und darauffolgende Kontierung.
Automatisierbar: Auf den ersten Blick scheint die ordnungsgemässe Kontierung in der Welt der automatischen Buchführung in einer einzigen Eingabe zu bestehen – nämlich einer Gegenbuchung zu der bekannten Buchungszeile der Bank (Ist-Methode). Ist dem System die Gegenpartei bereits bekannt, so kann auch die Gegenbuchung automatisch ablaufen. Jedoch ist die Tücke dabei, dass sich automatische Buchungsvorschläge wie «Autocomplete» verhalten: regelmässig wird der eigenständige Denkprozess unterbrochen und in manchen Fällen kommt es zu schwerwiegenden Fehlern, die aber aufgrund gegenteiliger Signale aus dem UI nicht mehr wahrgenommen werden.
Bedingt automatisierbar: Periodenabgrenzungen können bedingt automatisiert werden, indem Belege mit Hilfe von grossen Sprachmodellen (LLMs) auf zeitbezogene Merkmale hin analysiert werden (sog. «time identifiers»). Bei Erfolg kann das automatisch identifizierte Abgrenzungskriterium anhand von Quellenangaben auch in langen Dokumenten zuverlässig auf seine Relevanz hin überprüft werden (z.B. ein Lieferdatum, die Mietdauer, eine Serviceperiode).
Auf den zweiten Blick ist Buchhaltung aber bekanntlich viel mehr als nur Kontierung, denn die Einbettung der einzelnen Buchungen in den betriebswirtschaftlichen Zusammenhang lässt sich wiederum nicht automatisieren.
Nicht automatisierbar: Der über 1000-seitige Praxiskommentar zum Obligationenrecht von veb.ch zeugt in seiner Detailtreue davon, dass viele Aspekte der Buchhaltung a priori nicht automatisierbar sind. Dazu gehören insb. Fachkenntnisse des eidgenössischen und kantonalen Steuerrechts einschliesslich der Mehrwertsteuer, das Know-how bei fortgeschrittenen Abschluss- und Abgrenzungsbuchungen, die Bilanzierung von Rückstellungen und stillen Reserven, die Gewinnverwendung sowie die Erstellung von Jahresrechnung und Anhang. Denn um einen Geschäftsvorfall korrekt zu verbuchen, müssen oft branchenspezifische Verträge ganzheitlich analysiert werden.
Das buchhalterische Expertenwissen an der Nahtstelle von handwerklicher Kontierung, komplexer Systemlandschaft, steuerrechtlicher Praxis, fundierten Branchenkenntnissen und dem Verständnis für den gesamtwirtschaftlichen Kontext samt den Bedürfnissen unterschiedlicher Anspruchsgruppen (Stakeholder) lässt Automatisierung nicht zu.
Archivierung («Aufbewahrung»)
Die gesetzlich vorgeschriebene Aufbewahrung des Jahresabschlusses, des Prüfberichts und der Buchhaltungsbelege für einen Zeitraum von zehn Jahren nach Abschluss des Geschäftsjahres ist ein fester Bestandteil des Buchführungsprozesses.
Automatisierbar: Die Erfüllung der gesetzlichen Aufbewahrungspflichten verläuft automatisch, wenn die Buchhaltungssoftware in ein elektronisches Dokumentenmanagementsystem (DMS) integriert ist, welches den Vorgaben der Schweizer Geschäftsbücherverordnung (GeBüV) entspricht und im Idealfall von einer bei der Schweizerischen Akkreditierungsstelle (SAS) zugelassenen Prüfstelle zertifiziert ist.
Nicht automatisierbar: Die Konfiguration des DMS, die Definition des Ablageplans sowie der Indexierungsregeln und zu erfassenden Metadaten birgt Komplexitäten, die oft nur nach langer interner Anlaufzeit und mit Hilfe von im Archivwesen geschulten Beratern bewältigt werden können.
Abruf («Vorlegung»)
Wie bereits 1881 zu lesen war, sind Buchhaltungsunterlagen «bei Streitigkeiten über Rechtsverhältnisse» von hohem Nutzen und sind vorzulegen. Des Weiteren müssen Schweizer Banken und börsennotierte Firmen im Rahmen der Finanzberichterstattung ihre Geschäftsberichte an Aufsichtsbehörden melden und Analysten und Investoren mit standardisierten Kennzahlen beliefern.
Automatisierbar: Im Rahmen der elektronischen Finanzberichterstattung («E-Bilanz») ermöglicht der XBRL-Standard («eXtensible Business Reporting Language») die Übermittlung vergleichbarer Finanzkennzahlen über sog. XBRL-Tags (in der Schweiz: die OR-Taxonomie 2.0), und zwar direkt aus der Jahresrechnung in periphere Systeme, sei es zum Zweck der aufsichtsrechtlichen Berichterstattung (Eigenmittelvorschriften nach Basel III, ESG-Reporting, Klimaberichterstattung) oder z.B. zur automatisierten Kreditwürdigkeitsprüfung eines KMU seitens Hausbank.
Die Vorlegungspflicht endet jedoch nicht mit der Übermittlung der Zahlen aus der Finanzbuchhaltung an die zuständige Behörde. Der Grundsatz der Nachprüfbarkeit verlangt, dass Buchungstatsachen bis zur ursprünglichen Transaktion zurückverfolgt werden können: «Die Prüfspur muss […] ohne Zeitverlust jederzeit gewährleistet sein. Dabei ist nicht von Belang, ob und welche technischen Hilfsmittel zur Führung der Geschäftsbücher und Archivierung eingesetzt werden».(3)
Automatisierbar: Damit die Geschäftsbücher und dazugehörigen Einzelbelege vorgelegt werden können, müssen sie zunächst in einem DMS suchbar gemacht werden. Dies geschieht, wie bei normalen Büchern, durch Anlegung eines Index in einer speziellen Datenbank, wodurch eine zielgerichtete Volltextsuche in sämtlichen Verträgen und Rechnungen mit Gewichtung der Suchergebnisse gewährleistet ist.
Aufgrund des ausgeprägten Analysebedarfs im Buchhaltungswesen und der ständigen Arbeit mit Dokumenten ergibt sich aus der Vorlegungspflicht, dass die Buchhaltungskomponente ihre Funktion nur zur Hälfte erfüllen kann, wenn sie nicht in eine leistungsstarke Komponente zur Aktenführung mit Volltextsuche integriert ist.
III Metaprozesse
Stammdatenmanagement
Bedingt automatisierbar: Korrekte Stammdaten wie z. B. Adressen und Bankverbindungen von Debitoren/Kreditoren oder korrekte Preislisten fliessen direkt ins Rechnungswesen und schliesslich ins Buchhaltungssystem. Einerseits wird auch «Data Governance» zunehmend automatisierbar (etwa über API-Anbindungen an Primärquellen wie Handelsregister / Handelsplätze oder mittels automatischer Dublettenbereinigung), andererseits fehlen bei unvollständigen oder doppelten Datensätzen die Voraussetzungen zur Automatisierung schlechthin: Aufträge können nicht mehr richtig zugeordnet, Umsätze nicht korrekt berechnet werden. Schlimmstenfalls sind Duplikate mit offenen Aufträgen verknüpft – dann gelingt deren Bereinigung nur manuell.
Systemkonfiguration
Nicht automatisierbar: Unabhängig vom verwendeten System und der Grösse des Unternehmens lässt sich die Systemkonfiguration selbst nicht automatisieren. Daher ist eine präkonfigurierte Systemarchitektur, die auf die realen Bedürfnisse der buchhalterischen Praxis abgestimmt wurde, der eigentliche Schlüssel zur sinnvollen Automatisierung der Buchhaltung in der Schweiz.
Fussnoten
1 Stefan Walter von der FINMA hat es kürzlich auf den Punkt gebracht: «Technologie sollte sich an die Regulierung anpassen, nicht umgekehrt». tinyurl.com/tsm-24-3-wissner1
2 Dieter Pfaff, Stephan Glanz, Thomas Stenz, Florian Zihler (Hrsg.), Rechnungslegung nach Obligationenrecht. veb.ch Praxiskommentar mit Berücksichtigung steuerrechtlicher Vorschriften | 2. Auflage 2019, S. 116
3 Ibid., S. 126
Der Autor
Der Beitrag erschien im topsoft Fachmagazin 24-3
Das Schweizer Fachmagazin für Digitales Business kostenlos abonnieren
Abonnieren Sie das topsoft Fachmagazin kostenlos. 4 x im Jahr in Ihrem Briefkasten.