Urs Prantl macht sich in dieser Ausgabe seiner Kolumne Gedanken zur Frage: Warum werden heutzutage überhaupt noch neue ERP-Systeme entwickelt?
Wer ist so waghalsig und entwickelt ein neues ERP für die Schweiz? Und wer zum Henker braucht hierzulande überhaupt noch ein neues ERP?
Das waren meine ersten Reaktionen, als mir Cyrill Schmid erzählte, dass er mit Unternehmen im Kontakt stehe, die tatsächlich für die Schweiz ein neues ERP bauen wollen. Danach habe ich etwas länger darüber nachgedacht – und mir sind sowohl dagegen als auch dafür einige gute Gründe eingefallen.
Intuitiv und reflexartig war für mich, wie eingangs erwähnt, absolut klar: NEIN, kein Mensch braucht ein neues ERP-System! Suche ich zum Beispiel im topsoft-Marktplatz nach ERP, so bekomme ich 126 Treffer, andere Quellen kommen zu vergleichbaren Ergebnissen. Wer bei über einhundert möglichen Softwarelösungen nicht fündig wird, dem hilft ein zusätzliches ERP auch nicht weiter. Im Gegenteil, die grössere Auswahl macht die Entscheidung bloss noch schwieriger, mühsamer, länger und damit auch teurer. Die Qual der Wahl wird also bloss weiter auf die Spitze getrieben und bringt den Suchenden schlussendlich gar nichts. Sie sollen sich gefälligst für eines der bestehenden, meist langjährig bewährten ERP-Systeme entscheiden und damit basta.
Oder doch eher JA, es braucht sogar dringend neue ERP-Lösungen für die Schweiz! Dazu fallen mir mindestens zwei gute Gründe ein: Erstens sind eine grosse Zahl der bestehenden ERPs bereits deutlich in die Jahre gekommen und hinken insbesondere bei den technischen Möglichkeiten weit hinterher. Sei es, dass sie noch auf Client/Server-Technologie basieren, sei es, dass sie nur mit Hängen und Würgen in die Cloud und für die Nutzer in den Browser und auf mobile Geräte gebracht werden können, oder sei es, dass sie mit im Aussterben begriffenen Programmiersprachen geschrieben wurden. Von der Integration kommender KI-Technologien ganz zu schweigen.
Realistischerweise werden mindestens vier von fünf dieser Legacy-ERPs allein aus Finanzgründen nie mehr modernisiert werden können. Und zweitens hege ich grosse Zweifel daran, dass die grosse im Gang befindliche Konsolidierungswelle für Endbenutzer und Kunden dermassen nutzenbringend sein wird, wie dies die Investoren der ERP-Häuser vollmundig versprechen. Es sieht eher danach aus, als ob auf Kundenseite doch einige Verlierer geschaffen würden, die sich nach neuen ERP-Lösungen werden umsehen wollen, wenn nicht sogar müssen. Diese werden sich auf neue ERPs stürzen.
Was heisst das nun aber für die Neuen? Sie sollten sich ganz genau (strategisch) überlegen, wo es im ERP-Markt lukrative Lücken gibt. Keinesfalls dürfen sie den Fehler machen, einfach das einhundertneunte ERP, das dafür bloss moderner und schöner ist, auf den Markt zu bringen. Entscheidend ist vielmehr die Klärung, für welche Kunden und zu welchem Zweck das neue ERP zum Einsatz kommen soll. Und auch, wie das zugrunde liegende Geschäftsmodell nutzenbringend für die Kunden und mehrwertstiftend für den ERP-Hersteller aussehen soll. Anderenfalls wird aus dem neuen ERP eben bloss eines mehr, auf das wirklich niemand gewartet hat.
Urs Prantl kreiert mit seinem Unternehmen KMU Mentor GmbH zukunftssichere und gesund wachsende IT-Unternehmen und begleitet ihre Unternehmerinnen und Unternehmer bei der Unternehmensnachfolge und beim Firmenverkauf. Gleichzeitig ist er Host des Podcasts Prantls 5A, in welchem er die Einzigartigkeit erfolgreicher IT-Unternehmen direkt mit ihren Inhaberinnen und Inhabern diskutiert.
Der Beitrag erschien im topsoft Fachmagazin 24-4
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