Behavioral Product Design: Als Unternehmen durch Verhaltenspsychologie die Produktentwicklung verbessern

03.10.2024
4 Min.
Wie verhindern Unternehmen, Produkte zu entwickeln, die an den tatsächlichen Bedürfnissen ihrer Kundschaft vorbeigehen? Behavioral Product Design liefert die Antwort. Durch den Einsatz von Verhaltenspsychologie und realen Experimenten gestalten Unternehmen Produkte, die direkt den wahren Kundenbedarf treffen – ohne sich auf ungenaue Umfragen zu verlassen.
 

Der Produktenwicklungsprozess mit Behavioral Economics © elaboratum

 
Die Entwicklung komplexer Produkte wie Versicherungen, Finanzen und Telekommunikation wird meist von Experten übernommen. Das klingt logisch, stellt den Vertrieb jedoch vor Herausforderungen: Je höher die Expertise, desto grösser die Distanz zum Kunden, der oft nur wenig über das Thema weiss. Häufig tritt der „Fluch des Wissens“ ein, bei dem Fachleute unbewusst voraussetzen, dass andere ihr Wissen teilen.
 

Die Grenzen von Kundenbefragungen

Oft werden potenzielle Kunden befragt, was sie brauchen. Doch laut der Verhaltenspsychologie können Menschen in solchen Befragungen nicht genau vorhersagen, wie sie sich in einer realen Situation verhalten würden. Aussagen in Umfragen sind daher unzuverlässig. Ein bekanntes Beispiel dafür ist Henry Fords Zitat über „schnellere Pferde“. Zudem treffen Menschen rund 95 % ihrer Entscheidungen unbewusst.
 

Verhaltensdaten statt Vermutungen

Daher müssen Produkte auf Basis belastbarer Verhaltensdaten entwickelt werden. Wie Simon Sinek sagt: „100 % der Kunden sind Menschen. Wenn man Menschen nicht versteht, versteht man kein Geschäft.” Behavioral Product Design zielt darauf ab, Produkte zu schaffen, die dem echten Kundenbedarf entsprechen. Hierbei werden Produktideen durch verhaltenspsychologische Prinzipien getestet – und das unter realen Bedingungen, bevor sie überhaupt entwickelt werden. Statt „If we build it, you can buy it” gilt: „If you buy it, we will build it.”
 
Bisher wurde Behavioral Science vor allem im Marketing genutzt. Netflix etwa nutzt Verhaltenspsychologie intensiv in seinem Empfehlungsalgorithmus. Kickstarter verwendet ebenfalls verhaltenspsychologische Prinzipien wie soziale Bewährtheit und Verknappung, um das Engagement der Nutzer zu fördern. Projekte mit vielen Unterstützern oder begrenzten Plätzen wirken attraktiver und motivieren mehr Menschen, sich zu beteiligen. Doch der wahre Nutzen entfaltet sich bereits in der Produktentwicklung, wo Produkte von Anfang an auf die tatsächlichen Bedürfnisse der Kunden abgestimmt werden.
 

Behavioral Product Design: Der Kunde im Mittelpunkt

Behavioral Product Design beginnt mit einem klaren Fokus auf die Kundensicht, organisiert in fünf Phasen. 
  • Phase 1: Datenaggregation
    Bereits vorhandene Daten über die Zielgruppe werden gesammelt, wobei experimentelle Daten (z. B. A/B-Tests, Tracking) entscheidender sind als Befragungsdaten. Mithilfe von KI werden daraus „silicon personas“ entwickelt, die Kundenbedürfnisse und -probleme detailliert abbilden.
  • Phase 2: Entscheidungsmodell
    Auf Basis der Daten wird das Entscheidungsmodell der Kunden erstellt: Welche Barrieren und Treiber beeinflussen Kaufentscheidungen? Welche unbewussten Verhaltensmuster (Behavior Patterns) spielen eine Rolle? Tools wie Behavioral Mapping und Customer Journey Modeling helfen dabei, diese Muster zu identifizieren.
  • Phase 3: Unternehmenssicht
    Nun wird der Optionenraum des Unternehmens abgesteckt:
    Welche strategischen Möglichkeiten ergeben sich aus den Kundenfakten? Was ist technisch, rechtlich und kommerziell machbar?
    Hier setzt KI an, um Produktideen aus Benchmarks und Testergebnissen abzuleiten und Marktpotenziale zu berechnen.
  • Phase 4: Produktkonzepte
    Aus den strategischen Optionen werden erste Produktkonzepte, sogenannte „Produktvignetten“, entwickelt und visualisiert. Dabei kommen verhaltenspsychologische Prinzipien zum Einsatz, um das Produkt optimal zu präsentieren.
  • Phase 5: Validierung
    Durch „Fake Door“-Tests wird das reale Kaufverhalten der Kunden experimentell gemessen. Mithilfe von generativer KI werden Anzeigen erstellt, die eine hohe Klickrate erzielen. Kunden treffen echte Kaufentscheidungen, obwohl das Produkt noch nicht existiert. Im Anschluss erfolgt eine iterative Optimierung, um das finale Produkt und das Pricing zu perfektionieren.
 

Algorithmen für die Zielgruppenanalyse

Ein entscheidender Vorteil: Algorithmen von Social Media-Plattformen helfen dabei, Anzeigen gezielt an die richtige Zielgruppe auszuspielen. So wird die optimale Zielgruppe treffsicher identifiziert und analysiert.
 

Kernfragen, die Behavioral Product Design beantwortet

Mit Behavioral Product Design können bereits vor der Produktentwicklung entscheidende Fragen beantwortet werden, um Fehlinvestitionen zu vermeiden. Dazu zählen:
  • Hat das Produkt einen guten Product-Market-Fit?
  • Welche Value Propositions und Werbemassnahmen funktionieren?
  • Kann Nachfrage geweckt werden und bei welcher Zielgruppe?
  • Wo liegen die optimalen Preispunkte?
 
Zudem ermöglicht die Methode genaue Vorhersagen über das Marktpotenzial und die Kosten pro Bestellung (Cost per Order Intention), sodass unrealistische Forecasts der Vergangenheit angehören.
 

Kundenbeispiel: Behavioral Product Design für einen Versicherer

Für einen grossen deutschen Versicherer wurde ein Produkt entwickelt, das zusätzlichen Umsatz generieren sollte, ohne bestehende Umsätze zu kannibalisieren. Um Risiken zu vermeiden, wurden die Tests unter einer neuen Marke durchgeführt. Mithilfe verhaltenspsychologischer Methoden und KI-basierter Tools wurden Produktideen in realen Umgebungen getestet, was wertvolle Erkenntnisse zur Zielgruppe und Vermarktungsstrategie lieferte.
 

Erkenntnisse aus den Tests

Glaubenssatz: „Social Media erzeugt keine Nachfrage.“
Ergebnis: Bedarf kann auch ohne aktive Produktsuche geweckt werden, wie unsere Kampagnen zeigten.
 
Glaubenssatz: „Das Produkt ist für junge Frauen.“
Ergebnis: Die Tests ergaben, dass junge Männer stärkeres Interesse zeigten.
 
Glaubenssatz: „Nur günstige Produkte sind attraktiv.“
Ergebnis: Höhere Preise führten zu einem Anstieg der Nachfrage, was auf eine höhere wahrgenommene Qualität schliessen lässt.
 
Durch Behavioral Product Design konnten wir fundierte Entscheidungen treffen und die Produktentwicklung sowie die Vermarktung optimal anpassen.
 

Verhaltenspsychologie als Schlüssel zur marktreifen Produktentwicklung

Das Besondere an Behavioral Product Design ist die Nähe zur Realität: Echte Entscheidungen von echten Kunden werden in realen Umgebungen getestet. Statt auf unzuverlässige Umfragen zu setzen, wird das Verhalten der Kunden direkt beobachtet – ähnlich wie Tierfilmer, die in der Wildnis filmen statt im Zoo.
 
Da diese Tests in einer geschützten Umgebung stattfinden, minimieren Unternehmen Risiken. Die Verwendung künstlicher Marken, wie im Beispiel gezeigt, ermöglicht es, Produkte ohne Einfluss der Markenstärke zu testen. KI unterstützt dabei, die Zielgruppe präzise zu identifizieren, was die Erstellung fundierter Business Cases ermöglicht.
 
Zusammengefasst bietet Behavioral Product Design: 
  • Produkte mit Innovationskraft basierend auf Verhaltenspsychologie
  • Verlässliche, echte Entscheidungen statt unsicherer Umfragedaten
  • Einen validierten Product-Market-Fit durch tatsächliche Kaufabsichten
  • Eine klare Übereinstimmung der Zielgruppe mit der Realität
 
 

Der Autor

 
 
Philipp Spreer ist Managing Partner bei elaboratum GmbH © elaboratum
 
 

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