Wie zufrieden sind Anwender mit dem ERP-Einsatz in der Praxis? Die neutrale Studie «ERP in der Praxis 2020/21 – Anwenderzufriedenheit, Nutzen & Perspektiven» zeigt, wo den Kunden der Schuh drückt und wie die Systeme bewertet werden. Durchgeführt wurde die Untersuchung von der Trovarit AG mit Unterstützung ausgewählter Partner wie dem Schweizer Beratungsunternehmen 2BCS AG. Dabei wurden über 2000 Fragebögen ausgewertet untersucht. Die Ergebnisse zeigen unter anderem, dass die Anwenderzufriedenheit stark vom Nutzen der jeweiligen Lösung abhängt.
Bereits zum zehnten Mal seit 2004 hat die Trovarit AG in Aachen zusammen mit Partnern aus Deutschland, Österreich und der Schweiz die Anwenderzufriedenheit mit ERP-Software untersucht. Basis bildet eine Datenerhebung von Mitte März bis Anfang Juli 2020. Untersucht wurden 2539 Fragebögen, wobei nach intensiver Qualitätsprüfung 2089 für die Auswertung zugelassen wurden. Die Studienteilnehmer haben 139 verschiedene Systeme im Einsatz. Davon konnten 45 im Rahmen von gültigen Fragebögen bewertet werden, wobei nur 41 Systeme über einen relevanten Anteil der installierten Basis verfügen. Bei der Trovarit-Studie handelt es sich um die grösste, unabhängige Anwenderstudie zum ERP-Einsatz in Europa.
Systeme werden etwas früher ersetzt
Untersucht wurde unter anderem das Alter der eingesetzten ERP-Systeme. Nachdem die durchschnittliche Nutzungsdauer über die letzten Studien hinweg kontinuierlich gestiegen ist, verzeichnete man dieses Jahr erstmals wieder einen leichten Rückgang von 11,7 Betriebsjahren (2018) auf 11,3 Jahre. Dies deutet auf zunehmende Ersatzinvestitionen in den letzten zwei Jahren hin. Die meisten Anwender halten sich an die Release-Zyklen der Anbieter und sorgen dafür, dass ihre eingesetzte Software aktuell ist. Andererseits wird bei 30 % der Installationen ein Release verwendet, der drei oder mehr Jahre alt ist.
Ausschlaggebend ist der Nutzen
Zwischen der Anwenderzufriedenheit und dem Nutzen bzw. der Wirtschaftlichkeit des eingesetzten ERP-Systems besteht ein signifikanter Zusammenhang. Die Mehrheit der Studienteilnehmer attestieren ihren Systemen einen konkreten Beitrag zur Vereinfachung und Beschleunigung von Prozessen (59 %) und der schnellen, einfachen Bereitstellung von Informationen (56 %). Die oft kolportierte Rolle des ERP-Systems als «Rückgrat der Software-Landschaft» sehen allerdings deutlich weniger der Befragten. Hierbei muss darauf hingewiesen werden, dass die Nutzenaspekte von der Unternehmensgrösse abhängen. Für kleinere Firmen sind Prozesseffizienz und Transparenz wichtiger als für grössere Unternehmen, welche ihr ERP eher an der Fähigkeit von Prozessautomatisierung und Senkung von Prozesskosten messen.
Kundenbeziehungen zahlen sich aus
Die Top-Rankings im der Zufriedenheitsstudie 2020/21 gehen an Anbieter, welche entweder einen überdurchschnittlichen Nutzen aufweisen, über eine geringe Komplexität verfügen oder eine enge Kundenbeziehung pflegen. Gerade eine offene, intensive Kommunikation mit den Kunden sichert viele Pluspunkte. Wer als Anbieter Entwicklung, Einführung und Betreuung aus einer Hand anbieten kann, verschafft sich in der Gunst der Anwender wichtige Vorteile. Dies zeigt sich zum Beispiel auch anhand von Anbietern wie Opacc oder oxaion in der «mittleren Gewichtsklasse». Tendenziell schwerer haben es die anspruchsvollen ERP-Installationen aufgrund der hohen Projektkomplexität. So liegen beispielsweise Microsoft «Dynamics 365 Finance & SCM» (ehemals Dynamics AX/Axapta) und SAP S/4 HANA bei der Gesamtnote spürbar hinter Infor ERP LN.
Nur wenig Veränderung beim Ranking
Im Vergleich zu 2018 haben die meisten Systeme ihre Ergebnisse bestätigt. Allerdings gibt es auch einige Gewinner und Verlierer. So weist etwa der Schweizer Anbieter TOSCA (dynasoft AG) einen markanten Anstieg in der Kategorie Software-Zufriedenheit auf. Auf der anderen Seite muss unter anderem Canias bei der Zufriedenheit mit dem Anbieter Einbussen hinnehmen. Überraschend negativ erscheint die Bewertung von IFS Applications, nachdem die Lösung in den Vorjahren recht gute Resultate erzielt hat. Kunden bemängeln die Zufriedenheit mit dem Wartungspartner; in den meisten Fällen ist das der Hersteller IFS selbst. Das führte zu einem veritablen Absturz um eine halbe Schulnote. Die Studie zeigt insgesamt, dass die Grösse und Komplexität einer ERP-Installation in direktem Zusammenhang mit der Anwenderzufriedenheit steht. Je höher das Anforderungsniveau, desto kritischer die Kunden.
Problemfelder beim ERP-Einsatz
Die grösste Herausforderung sehen die Anwender bei zu langen Reaktionszeiten des Anbieter-Supports (16 % der Unternehmen), gefolgt von den Kosten für den ERP-Betrieb (13,4%) und den Aufwand für die Datenpflege (13,1 %). Doch es gibt auch gute Nachrichten: Jedes fünfte Unternehmen gibt zu Protokoll, dass es im ERP-Betrieb keine Probleme hat. Auch diese Aussage ist wieder eine Frage der Grösse. Nur 10 % der mittleren Unternehmen können diese unterstreichen im Gegensatz zu 24 % bei den kleineren Firmen. Auch zwischen den grossen und mittleren Betrieben gibt es unterschiedliche Problemfelder. Dazu zählen Anpassbarkeit der Software, Ergonomie, Aufwand bei Updates sowie Schnittstellen bzw. Integration von Software-Anwendungen.
Ausblick auf Themen und Trends
Wenig erstaunlich, dass 60 % der befragten Unternehmen die Daten- und Informationssicherheit für sehr relevant halten. Das korrespondiert mit Platz zwei, der Einhaltung von rechtlichen Vorgaben und Compliance mit Branchenregularien. Hier werden die ERP-Anbieter künftig noch mehr gefordert sein, die Anforderungen zu erfüllen. Sei es durch ein klares Identity Management, der rechtssicheren Archivierung von Dokumenten, der Nutzung personenbezogener Daten oder die Verwaltung von Produktinformationen (GTIN/NTIN/PPN), Verfalldaten und Chargennummern. Betrachtet man die bewerteten ERP-Systeme genauer, verwundert es nicht, dass 45 % der Anwender Usability und Software-Ergonomie zum Thema machen. Auch das Thema Mobilität schafft es unter die Top-5. Die mobile Nutzung spielt eine immer grössere Rolle bei Geschäftsmodellen, Organisationsstrukturen und Arbeitsformen.
Die fortschreitende Digitalisierung von Geschäftsprozessen führt zu einem höheren Integrationsbedarf verschiedener Anwendungen bzw. die Integration in ein Gesamtsystem. Schnittstellenmanagement treibt deshalb 40 % der Anwender um. Fast ebenso viele beschäftigen sich mit datengetriebenen Dienstleistungen (Smart Services). Damit geht oft eine Umgestaltung der bisherigen Geschäftsmodelle einher. Anstatt des Verkaufs von Maschinen, wird zum Beispiel die produktive Verfügbarkeit verkauft und nach Leistung abgerechnet. Wir dürfen gespannt sein, was die Zukunft bringt und wie die ERP-Anbieter damit umgehen.
Insgesamt gute Noten für die meisten Systeme
Die aktuelle Trovarit-Studie zeigt, dass die meisten Anwender mit der eingesetzten ERP-Software weitgehend zufrieden sind. Nicht alles, was in den Medien derzeit als Hype gehandelt wird, finden bereits Resonanz in der betrieblichen Praxis. Das Internet der Dinge, Künstliche Intelligenz, Robotic Process Automation oder Augmented/Virtual Reality stehen thematisch noch nicht wirklich auf der Agenda. Die Beziehung und die Kommunikation mit den Kunden sind und bleiben derzeit nebst der eingesetzten Technologie entscheidende Erfolgsfaktoren in der Anwenderzufriedenheit.
Der Autor
Dr. Martin Brogli, CEO und Inhaber von 2BCS AG. Seit 1995 ist er als Prozess- und IT-Berater in den verschiedensten Industrien in der Schweiz und im Ausland tätig. Er hat an der Hochschule St. Gallen Wirtschaftsinformatik studiert und anschliessend seine Dissertation zum Thema "Prozesse und IT" geschrieben. Dr. Brogli ist ein ausgewiesener Fachmann in den Themen Applikationsstrategie, Prozessoptimierung, Software-Evaluationen und -Einführungen sowie Change Management.
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