Schachmatt der Künstlichen Intelligenz?

Vom Feuilleton der Sonntagspresse über die Strategiesitzung der Geschäftsleitung bis hin zum täglichen Surfen im Internet: Künstliche Intelligenz (KI) ist allgegenwärtig und löst Schrecken, Begeisterung oder Überforderung aus. Furcht vor allumfassender Apokalypse steht schallendem Gelächter über banale Unzulänglichkeiten gegenüber. Wo stehen wir? Schach ist seit den KI-Anfängen ein beliebter Untersuchungsgegenstand – und hat uns immer noch viel zu lehren.

 

Künstliche Intelligenz ist längst nicht mehr das exklusive Privileg von Silicon-Valley-Firmen. Als Privatanwender sind wir schon längst, bewusst oder unbewusst, Konsumenten, Produzenten und Studienobjekte von KI. Mehr und mehr stellt sich die Frage nach dem aktiven Nutzen von KI auch für kleine und mittlere Unternehmen aller Branchen. Tatsächlich gibt es kaum ein Business, wo nicht die eine oder andere Form von Künstlicher Intelligenz dazu beitragen kann, Schlüsselprozesse zu vereinfachen, beschleunigen oder auch ganz auf den Kopf zu stellen. 

Die sogenannte "Künstliche Intelligenz" basiert auf ganz anderen Prinzipien als die menschliche Intelligenz. AlphaZero der Google-Tochter DeepMind zeigt, wie sich KI immer weiter entwickelt - und sogar "menschlicher" wird.

 

Seien es typische analoge Informationsverarbeitungsprozesse wie die Analyse von Bildern, Videos, geschriebenem und gesprochenem Text, oder seien es prognostizierende, zahlenbasierte Prozesse wie das Vorhersagen von Wetter, Kursen, Absätzen, Risiken, Kundenpräferenzen, Wartungsbedarf, Verkehrsflüssen – wo im grösseren Umfang Daten im Spiel sind, besteht Potenzial, mit KI besser, schneller, innovativer und demzufolge wirtschaftlicher zu sein. 

Ein Probierstein des Gehirns (Goethe)

Am Exempel des Schachspiels, einem der allerersten Studienobjekte der Künstlichen Intelligenz, lässt sich schön nachvollziehen, welche Entwicklung die Disziplin hinter sich hat. Auch nach Jahrzehnten finden noch revolutionäre Umwälzungen statt, die uns Schlüsselaspekte des erfolgreichen KI-Einsatzes vor Augen führen. 

Alan Turing (1912–1954) ist unsterblich. Der Brite hat das Konzept der Turing-Maschine erfunden und im Weltkrieg die deutsche “Enigma” entschlüsselt. Ausserdem war er ein Pionier der Künstlichen Intelligenz und machte sich viele konkrete Gedanken dazu, wie Computer intelligent handeln könnten. 

Können wir eine Maschine bauen, welche

  • die Schachregeln beherrscht?
  • Schachprobleme lösen kann?
  • eine gute Schachpartie spielt?
  • ihr Spiel aus der eigenen Erfahrung verbessern kann?

 

Den Grundstein zur Lösung dieser Herausforderungen hatte er selber gelegt – schon 1948 entwickelte Turing einen Algorithmus, der Schach spielen konnte. Da es noch gar keine Computer gab, führte er sämtliche Berechnungen des Programms manuell durch, was etwa eine halbe Stunde pro Zug in Anspruch nahm.

Bald war es eine der grossen Ambitionen der KI-Forschung, das Schachspiel zu “knacken”, ein Programm zu entwickeln, das so gut spielen würde wie der Mensch. Obwohl sich viele Forscher, Programmierer und Schach-Experten darauf stürzten, blieben die Fortschritte klein. 1968 prophezeiten führende KI-Experten dennoch, dass ein Schachcomputer innerhalb einer Dekade den Weltmeister besiegen würde. Ihre Wette gegen den britischen Schachmeister David Levy verloren sie kläglich. 

Nur einen Zug, aber den besten!

Die Wende kam in den 80er und 90er Jahren, als Rechenkraft und Arbeitsspeicher wuchsen und die Computerschach-Experten Abschied nahmen vom ursprünglichen Ansatz, den Denkprozess des “idealen” Schachmeisters zu verstehen und zu formalisieren.

Die neuen Programme, die 1988 erstmals einen Grossmeister und 1997 den Weltmeister besiegten (“Deep Blue”–Garri Kasparow), sind inzwischen den besten menschlichen Schachspielern haushoch überlegen. Doch sie haben mit den ursprünglichen Ideen von KI nur wenig gemeinsam. Statt die noch immer unergründliche menschliche Intelligenz nachzubilden, haben die Programmierer sich darauf verlegt, die Stärken des Rechners zu perfektionieren – ein Ansatz, der fast diametral dem menschlichen gegenübersteht.

Studien haben längst gezeigt, dass die erfolgreichsten Schachmeister nicht mehr oder weiter rechnen als die Konkurrenz. Ihre Überlegenheit basiert vielmehr auf einer tiefen Intuition, mit denen sie in Sekundenbruchteilen wesentliche von unwesentlichen Stellungsmerkmalen unterscheiden, die aussichtsreichsten Züge erkennen und die sich ergebenden Situationen und Chancen genau einschätzen. Verschiedenen Koryphäen wird diese Antwort auf eine beliebte Laienfrage zugeschrieben: “Wie viele Züge rechnen Sie voraus?” – “Nur einen. Aber den besten.” Die Anekdote illustriert die Quintessenz menschlicher Schachintelligenz.

Dem gegenüber steht die “Brute Force”-Methode der erfolgreichen elektronischen Programme, die mangelhaftes Stellungsurteil durch erschöpfendes Rechnen kompensieren. Statt den besten Zügen berechnet ein Brute-Force-Algorithmus jeweils sämtliche Möglichkeiten, mögen sie noch so absurd erscheinen. Zwar ist das Schachspiel zu komplex, als dass es je zu Ende gerechnet werden könnte. Doch in vielen Stellungen sind Rechentiefen von 15, 20 und mehr Zügen (jeweils von Weiss und Schwarz) schnell mal erreicht. Am Ende sind die resultierenden Stellungen irgendwie zu bewerten (“Bewertungsfunktion”), doch je weiter hinten in der Berechnung diese Bewertung erfolgt, desto weniger exakt braucht sie zu sein. 

Hat “Brute Force” das Problem gelöst?

Brute Force, kombiniert mit cleveren Erweiterungen und viel manuellem und maschinellem Adjustieren der Bewertungsfunktion, hat dazu geführt, dass der Computer nach langsamem Start, den Menschen längst deklassiert. Gleichzeitig zeigte sich in jüngster Zeit, dass beim Spiel der besten Programme untereinander die “Remis-Breite” immer grösser wird. Nur selten gelingt es noch einem der Top-Programme, einen Konkurrenten zu besiegen. Ein Plateau schien erreicht, wo die Programme nahezu fehlerlos spielen. Das Problem “Schach” schien gelöst und keine weiteren Überraschungen und Entwicklungen mehr bereitzuhalten.

Da betrat AlphaZero von der Google-Tochter DeepMind die Bühne. Nachdem das Team bereits das japanische Go revolutioniert hatte, wandte es sich dem Schach zu. Im Dezember 2017 wurden die Ergebnisse und einige Beispielpartien publiziert. AlphaZero verfolgt nicht nur einen anderen Ansatz als die Baumsuche von “Brute Force”, sondern es lernt auch vollständig autonom – das heisst, ausser den Spielregeln ist es auf keinerlei Schachwissen von aussen angewiesen (wie es etwa bei der Bewertungsfunktion herkömmlicher Programme der Fall ist).

Die Hauptkomponenten von Alpha Zero sind wohlbekannt. Sie wurden schon vor Jahren auch in der Schachprogrammierung eingesetzt, aber damals ohne Erfolg. Ein künstliches neuronales Netz dient der Zug-Generierung und mit Monte-Carlo-Simulationen, wo eine Position etliche Mal virtuell zu Ende ausgespielt wird, wird auf statistischem Weg eine Bewertung der verschiedenen Fortsetzungen berechnet. Obwohl das Programm auf keinerlei menschliches Wissen angewiesen ist, spielt es im Endeffekt “menschlicher” als die anderen Computerprogramme!

Die Simulationen resultieren in einem Verhalten, das ironischerweise die Stärken und Schwächen der menschlichen Schachexpertise reflektiert. Das Programm kann auf statistischem Weg weitsichtige strategische Nuancen und Chancen erkennen, die jenseits des Horizonts von 20, 30 Zügen der anderen Programme liegen und vom Menschen mit “Intuition” erklärt würden. Gleichzeitig kann es vorkommen, dass das Programm Fehler begeht, die auch einem Menschen, nie aber einem Brute-Force-Programm unterlaufen könnten. 

AlphaZero: “menschliche” Intuition

Im Endeffekt hat AlphaZero also die Programmierung wieder etwas näher an die ursprüngliche “menschliche” Intelligenz angenähert – und das mit einer geradezu schockierenden Effektivität: AlphaZero besiegte das führende Brute-Force-Programm Stockfish mit einem Resultat von 28:0, bei 72 Remis. “Schach aus einer anderen Galaxie” titelte ein führendes Schach-Journal, und bezog sich sowohl auf die ungeheure Spielstärke als auch auf die beeindruckende Spielweise dieses Schachmonsters. In einem massiv parallelen Rechengang von nur 4 Stunden war es soweit gekommen, wie Mensch und Maschine zuvor über Jahrzehnte und Jahrhunderte.

Nun gibt es zwischen Schach und dem “richtigen” Leben viele Unterschiede. Dennoch lassen sich aus dieser Geschichte folgende Dinge lernen: 

  • Die Erwartungen an KI erfüllen sich nicht immer sofort, aber technische Fortschritte, wie Googles Tensor Processing Units, erlauben nach langer Stagnation oft gigantische Sprünge in kürzester Zeit.
  • Erfolgreiche Künstliche Intelligenz versucht nicht, den Menschen nachzubilden, sondern fokussiert darauf, die Stärken der Rechenmaschine auszunutzen und in einem wohldefinierten Bereich ein als intelligent wahrgenommenes Verhalten herbeizuführen.
  • Verfügbarkeit von mehr Rechenkraft und Daten können Ansätzen zum Durchbruch verhelfen, die jahrelang aussichtslos schienen.
  • KI entsteht nicht von allein, sondern wird von Menschen geplant, gesteuert und ermöglicht.

AlphaZero hat zwar selbständig gelernt. Doch es waren kluge Ingenieure, die passende Basisalgorithmen, Strukturen und Zielstellungen formuliert und bereitgestellt hatten – und auf dieser Metaebene mit ihrer rein menschlichen Intelligenz ganz entscheidenden Anteil an dem Unternehmen hatten.

 

 

Der Autor

Dr. Richard Forster ist Head AI Solution von Machine Learning Partners, dem KI-Kompetenzzentrum der Wabion AG, Olten. Er ist promovierter Computerlinguist und hat die Schweiz auf einem halben Dutzend Schacholympiaden vertreten. Er hat mehrere Schachbücher verfasst, darunter Emanuel Lasker, World Chess Champion for 27 Years (Oktober 2018).